Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.zwischen wehklagte sie über die Entfernung von ihren Aeltern, Durch die Anwendung gelinder Abführungen und lau¬ Die sorgfältige Erwägung des ganzen Sachverhältnisses Ideler über d. rel. Wahnsinn, 11
zwiſchen wehklagte ſie uͤber die Entfernung von ihren Aeltern, Durch die Anwendung gelinder Abfuͤhrungen und lau¬ Die ſorgfaͤltige Erwaͤgung des ganzen Sachverhaͤltniſſes Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 11
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0169" n="161"/> zwiſchen wehklagte ſie uͤber die Entfernung von ihren Aeltern,<lb/> zu denen ſie zuruͤckgebracht zu werden verlangte.</p><lb/> <p>Durch die Anwendung gelinder Abfuͤhrungen und lau¬<lb/> warmer Baͤder gelang es allmaͤhlig, ihre heftige Aufregung<lb/> zu daͤmpfen, ſo daß ſie ſeit dem 15. December beſſer ſchlief,<lb/> nicht mehr einen ſo großen Ungeſtuͤm in ihren Bewegungen<lb/> zeigte, und das laute Wehklagen einſtellte. Ihr Geſichtsaus¬<lb/> druck verrieth zwar noch einen großen Schmerz, auch glaubte ſie<lb/> mit den geringfuͤgigſten Handlungen etwas Boͤſes gethan zu<lb/> haben; doch ließ ſich in ihrem ganzen Benehmen jene heilſame<lb/> Abſtumpfung des Gefuͤhls wahrnehmen, in welche die unmaͤßige<lb/> Spannung der Seele und des Koͤrpers uͤbergehen muß, wenn<lb/> ein guͤnſtiger Erfolg eintreten ſoll. Sie war ſtundenlang ganz<lb/> in ſich verſunken, ſo daß ſie auf die vorgelegten Fragen kaum<lb/> achtete, nur ihren Wunſch aͤußerte, zu ihren Angehoͤrigen zu¬<lb/> ruͤckzukehren, bei gelegentlicher Erwaͤhnung des Predigers ſelbſt<lb/> laͤchelte. Die Furcht vor Vergiftung ſchwand gaͤnzlich, ſie aß<lb/> und trank mit großem Appetite, und befand ſich leidlich wohl.<lb/> Indeß ihr Seelenleiden war zu tief begruͤndet, als daß der<lb/> erſte Nachlaß deſſelben ſchon zu einer fortſchreitenden Geneſung<lb/> haͤtte fuͤhren koͤnnen, und wenn erſteres auch nicht wieder die<lb/> aͤußerſte Hoͤhe, wie zu Anfang erreichte, ſo wurde doch die<lb/> Kranke ſchon im naͤchſten Monate wieder unruhiger, aͤußerte die<lb/> Sehnſucht, zu den Ihrigen zuruͤckzukehren, auf eine ungeſtuͤme<lb/> Weiſe, und erblickte in den geringfuͤgigſten Handlungen eine<lb/> ſchwere Suͤnde.</p><lb/> <p>Die ſorgfaͤltige Erwaͤgung des ganzen Sachverhaͤltniſſes<lb/> mußte die Aufforderung zu einem energiſchen Verfahren geben,<lb/> durch deſſen Anwendung man nur noch hoffen konnte, die Feſ¬<lb/> ſeln zu ſprengen, in denen ihr Gemuͤth ſchon ſeit Jahren be¬<lb/> fangen war. Denn der pſychiſche Arzt muß in ſolchen Faͤllen<lb/> der ernſten Lehre eingedenk ſein, daß halbe Maaßregeln nicht<lb/> zum Ziel fuͤhren, ja den Zuſtand noch verſchlimmern, weil ein<lb/> Angriff auf eine Leidenſchaft, welcher ſie nicht uͤberwindet, ſie<lb/> zu einer Reaction herausfordert, durch welche ſie nur noch hart¬<lb/> naͤckiger werden muß. Wer dieſe Wahrheit nicht beherzigt,<lb/> kann durch ein an ſich ganz richtiges Heilverfahren die pſychi¬<lb/> ſche Krankheit leicht methodiſch verſchlimmern, wengiſtens wird<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Ideler</hi> uͤber d. rel. Wahnſinn, 11<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [161/0169]
zwiſchen wehklagte ſie uͤber die Entfernung von ihren Aeltern,
zu denen ſie zuruͤckgebracht zu werden verlangte.
Durch die Anwendung gelinder Abfuͤhrungen und lau¬
warmer Baͤder gelang es allmaͤhlig, ihre heftige Aufregung
zu daͤmpfen, ſo daß ſie ſeit dem 15. December beſſer ſchlief,
nicht mehr einen ſo großen Ungeſtuͤm in ihren Bewegungen
zeigte, und das laute Wehklagen einſtellte. Ihr Geſichtsaus¬
druck verrieth zwar noch einen großen Schmerz, auch glaubte ſie
mit den geringfuͤgigſten Handlungen etwas Boͤſes gethan zu
haben; doch ließ ſich in ihrem ganzen Benehmen jene heilſame
Abſtumpfung des Gefuͤhls wahrnehmen, in welche die unmaͤßige
Spannung der Seele und des Koͤrpers uͤbergehen muß, wenn
ein guͤnſtiger Erfolg eintreten ſoll. Sie war ſtundenlang ganz
in ſich verſunken, ſo daß ſie auf die vorgelegten Fragen kaum
achtete, nur ihren Wunſch aͤußerte, zu ihren Angehoͤrigen zu¬
ruͤckzukehren, bei gelegentlicher Erwaͤhnung des Predigers ſelbſt
laͤchelte. Die Furcht vor Vergiftung ſchwand gaͤnzlich, ſie aß
und trank mit großem Appetite, und befand ſich leidlich wohl.
Indeß ihr Seelenleiden war zu tief begruͤndet, als daß der
erſte Nachlaß deſſelben ſchon zu einer fortſchreitenden Geneſung
haͤtte fuͤhren koͤnnen, und wenn erſteres auch nicht wieder die
aͤußerſte Hoͤhe, wie zu Anfang erreichte, ſo wurde doch die
Kranke ſchon im naͤchſten Monate wieder unruhiger, aͤußerte die
Sehnſucht, zu den Ihrigen zuruͤckzukehren, auf eine ungeſtuͤme
Weiſe, und erblickte in den geringfuͤgigſten Handlungen eine
ſchwere Suͤnde.
Die ſorgfaͤltige Erwaͤgung des ganzen Sachverhaͤltniſſes
mußte die Aufforderung zu einem energiſchen Verfahren geben,
durch deſſen Anwendung man nur noch hoffen konnte, die Feſ¬
ſeln zu ſprengen, in denen ihr Gemuͤth ſchon ſeit Jahren be¬
fangen war. Denn der pſychiſche Arzt muß in ſolchen Faͤllen
der ernſten Lehre eingedenk ſein, daß halbe Maaßregeln nicht
zum Ziel fuͤhren, ja den Zuſtand noch verſchlimmern, weil ein
Angriff auf eine Leidenſchaft, welcher ſie nicht uͤberwindet, ſie
zu einer Reaction herausfordert, durch welche ſie nur noch hart¬
naͤckiger werden muß. Wer dieſe Wahrheit nicht beherzigt,
kann durch ein an ſich ganz richtiges Heilverfahren die pſychi¬
ſche Krankheit leicht methodiſch verſchlimmern, wengiſtens wird
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 11
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