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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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wendung der Brechweinsteinsalbe hatte einen nur theilweisen
Erfolg, da die Kranke nur dem Anschein nach ruhiger wurde,
sich ihrer Wahnvorstellungen zu schämen vorgab, und an an¬
dere Dinge zu denken versprach. Dennoch zeigte sie in ihrer
ganzen Haltung noch immer eine große Unsicherheit und Be¬
fangenheit, so daß man eines abermaligen Rückfalls gewärtig
sein mußte, wenn sie auch außerdem fleißig und aufmerksam
auf alle ihr ertheilten Vorschriften war. Wirklich ließ eine
Verschlimmerung ihres Zustandes nicht lange auf sich warten,
denn schon um die Mitte des Julius quälte sie sich wieder
mit der Vorstellung, daß sie hingerichtet werden solle, und
daß man ihr das Todesurtheil bald verlesen werde, wofür sie
besonders die Bestätigung in dem unvermeidlichen Geräusch in
dem über dem ihrigen belegenen Krankenzimmer zu finden
glaubte, woselbst ein Criminalgericht sich versammelt habe. Je¬
des Kommen anderer Menschen hielt sie für die Annäherung
der Gerichtsdiener, welche sie abholen sollten, und die größte
Furcht hegte sie vor den Oefen, durch welche im Winter die
Luftheizung bewirkt wird, weil sie überzeugt war, daß man
sie in die Flammen derselben werfen werde, damit sie nach
dem Tode die Sünden aller Menschen in ewigen Höllenstrafen
abbüße, während die ganze Welt untergehe. Im Vorgefühl
des nahen Todes hielt sie sich für durchaus krank, ohne jedoch
angeben zu können, worin ihr Körperleiden bestehe.

Um ermüdende Wiederholungen zu vermeiden, bemerke
ich nur noch, daß die S. im Laufe der nächsten Monate einen
mehrmaligen Wechsel von scheinbarer Ruhe und Besonnenheit
mit Anfällen von Todesfurcht und Angst vor den ewigen Höl¬
lenstrafen erfuhr, so daß sie noch im Laufe des Novembers
von der Anwesenheit eines Criminalgerichts in einem höheren
Stockwerke, durch welches sie verdammt werden solle, über¬
zeugt war. Dann aber wich die Krankheit einem dauernden
Seelenfrieden, in welchem ihr Geist mit jeder Woche sich mehr
aufklärte. Ich benutzte nun sorgfältig diese günstige Wendung,
mit ihr wiederholte und ausführliche Gespräche über ihr frühe¬
res Leben anzuknüpfen, und ihr namentlich die Vermeidung
aller pietistischen Aufregungen als die nothwendige Bedingung
zur Erhaltung ihrer Seelengesundheit zu bezeichnen, indem ich

wendung der Brechweinſteinſalbe hatte einen nur theilweiſen
Erfolg, da die Kranke nur dem Anſchein nach ruhiger wurde,
ſich ihrer Wahnvorſtellungen zu ſchaͤmen vorgab, und an an¬
dere Dinge zu denken verſprach. Dennoch zeigte ſie in ihrer
ganzen Haltung noch immer eine große Unſicherheit und Be¬
fangenheit, ſo daß man eines abermaligen Ruͤckfalls gewaͤrtig
ſein mußte, wenn ſie auch außerdem fleißig und aufmerkſam
auf alle ihr ertheilten Vorſchriften war. Wirklich ließ eine
Verſchlimmerung ihres Zuſtandes nicht lange auf ſich warten,
denn ſchon um die Mitte des Julius quaͤlte ſie ſich wieder
mit der Vorſtellung, daß ſie hingerichtet werden ſolle, und
daß man ihr das Todesurtheil bald verleſen werde, wofuͤr ſie
beſonders die Beſtaͤtigung in dem unvermeidlichen Geraͤuſch in
dem uͤber dem ihrigen belegenen Krankenzimmer zu finden
glaubte, woſelbſt ein Criminalgericht ſich verſammelt habe. Je¬
des Kommen anderer Menſchen hielt ſie fuͤr die Annaͤherung
der Gerichtsdiener, welche ſie abholen ſollten, und die groͤßte
Furcht hegte ſie vor den Oefen, durch welche im Winter die
Luftheizung bewirkt wird, weil ſie uͤberzeugt war, daß man
ſie in die Flammen derſelben werfen werde, damit ſie nach
dem Tode die Suͤnden aller Menſchen in ewigen Hoͤllenſtrafen
abbuͤße, waͤhrend die ganze Welt untergehe. Im Vorgefuͤhl
des nahen Todes hielt ſie ſich fuͤr durchaus krank, ohne jedoch
angeben zu koͤnnen, worin ihr Koͤrperleiden beſtehe.

Um ermuͤdende Wiederholungen zu vermeiden, bemerke
ich nur noch, daß die S. im Laufe der naͤchſten Monate einen
mehrmaligen Wechſel von ſcheinbarer Ruhe und Beſonnenheit
mit Anfaͤllen von Todesfurcht und Angſt vor den ewigen Hoͤl¬
lenſtrafen erfuhr, ſo daß ſie noch im Laufe des Novembers
von der Anweſenheit eines Criminalgerichts in einem hoͤheren
Stockwerke, durch welches ſie verdammt werden ſolle, uͤber¬
zeugt war. Dann aber wich die Krankheit einem dauernden
Seelenfrieden, in welchem ihr Geiſt mit jeder Woche ſich mehr
aufklaͤrte. Ich benutzte nun ſorgfaͤltig dieſe guͤnſtige Wendung,
mit ihr wiederholte und ausfuͤhrliche Geſpraͤche uͤber ihr fruͤhe¬
res Leben anzuknuͤpfen, und ihr namentlich die Vermeidung
aller pietiſtiſchen Aufregungen als die nothwendige Bedingung
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[164/0172] wendung der Brechweinſteinſalbe hatte einen nur theilweiſen Erfolg, da die Kranke nur dem Anſchein nach ruhiger wurde, ſich ihrer Wahnvorſtellungen zu ſchaͤmen vorgab, und an an¬ dere Dinge zu denken verſprach. Dennoch zeigte ſie in ihrer ganzen Haltung noch immer eine große Unſicherheit und Be¬ fangenheit, ſo daß man eines abermaligen Ruͤckfalls gewaͤrtig ſein mußte, wenn ſie auch außerdem fleißig und aufmerkſam auf alle ihr ertheilten Vorſchriften war. Wirklich ließ eine Verſchlimmerung ihres Zuſtandes nicht lange auf ſich warten, denn ſchon um die Mitte des Julius quaͤlte ſie ſich wieder mit der Vorſtellung, daß ſie hingerichtet werden ſolle, und daß man ihr das Todesurtheil bald verleſen werde, wofuͤr ſie beſonders die Beſtaͤtigung in dem unvermeidlichen Geraͤuſch in dem uͤber dem ihrigen belegenen Krankenzimmer zu finden glaubte, woſelbſt ein Criminalgericht ſich verſammelt habe. Je¬ des Kommen anderer Menſchen hielt ſie fuͤr die Annaͤherung der Gerichtsdiener, welche ſie abholen ſollten, und die groͤßte Furcht hegte ſie vor den Oefen, durch welche im Winter die Luftheizung bewirkt wird, weil ſie uͤberzeugt war, daß man ſie in die Flammen derſelben werfen werde, damit ſie nach dem Tode die Suͤnden aller Menſchen in ewigen Hoͤllenſtrafen abbuͤße, waͤhrend die ganze Welt untergehe. Im Vorgefuͤhl des nahen Todes hielt ſie ſich fuͤr durchaus krank, ohne jedoch angeben zu koͤnnen, worin ihr Koͤrperleiden beſtehe. Um ermuͤdende Wiederholungen zu vermeiden, bemerke ich nur noch, daß die S. im Laufe der naͤchſten Monate einen mehrmaligen Wechſel von ſcheinbarer Ruhe und Beſonnenheit mit Anfaͤllen von Todesfurcht und Angſt vor den ewigen Hoͤl¬ lenſtrafen erfuhr, ſo daß ſie noch im Laufe des Novembers von der Anweſenheit eines Criminalgerichts in einem hoͤheren Stockwerke, durch welches ſie verdammt werden ſolle, uͤber¬ zeugt war. Dann aber wich die Krankheit einem dauernden Seelenfrieden, in welchem ihr Geiſt mit jeder Woche ſich mehr aufklaͤrte. Ich benutzte nun ſorgfaͤltig dieſe guͤnſtige Wendung, mit ihr wiederholte und ausfuͤhrliche Geſpraͤche uͤber ihr fruͤhe¬ res Leben anzuknuͤpfen, und ihr namentlich die Vermeidung aller pietiſtiſchen Aufregungen als die nothwendige Bedingung zur Erhaltung ihrer Seelengeſundheit zu bezeichnen, indem ich

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/172>, abgerufen am 25.11.2024.