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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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welche von mehreren Mitgliedern heftig bestritten, von anderen
aber im strengsten Sinne behauptet wurde, als ob Gott schon
vor Erschaffung der Welt das Loos jedes Einzelnen zur See¬
ligkeit oder Verdammniß vorherbestimmt habe. Da E. zwischen
richtigen Begriffen und aufgedrungenen mysteriösen Vorstellun¬
gen von seinem schwachen Charakter in der Schwebe erhalten
wurde; so half es ihm Nichts, daß er mit gesundem Urtheil
den Hochmuth der Pharisäer erkannte, welche sich im Herzen
für Auserwählte hielten, um Andere zu verdammen, denn er
wurde dadurch nicht von seinem bangen Zweifel befreit, ob
auch er zu den Auserwählten gehören möge, und fand keinen
nachhaltigen Trost in der Versicherung, daß seine Seeligkeit
durch die Wiedertaufe gerettet, und daß seine Unruhe ein Zei¬
chen der Gnadenwirkung Gottes in seinem heilsbegierigen Her¬
zen sei, welches nur in einem gleichgültigen Gemüth vermißt
werde. Inzwischen wurden die stets fortgesetzten Streitigkeiten
über die Gnadenwahl mit einer solchen Erbitterung in harten
Worten geführt, daß E. sich oft dadurch in seinem Innern
verletzt und empört gegen die Engherzigkeit und Verachtung
fühlte, welche seine Glaubensgenossen gegen Andersdenkende
offenbarten. Ein anderer oft mit Heftigkeit discutirter Con¬
troverspunkt bezog sich auf die Wiederbringung aller Dinge,
deren Vertheidiger sich besonders auf die Schriften von Jung
Stilling beriefen, welcher gelehrt haben soll, daß die Frommen
im ewigen Leben alle Erdengüter und sinnliche Lust wieder¬
fänden. Diese mystische Behauptung erschien dem E. im vollen
Widerspruche mit dem reinen Geiste des Christenthums, und
da er aus Gesinnung die unaufhörlichen Wortkriege haßte,
welche den Frieden seiner Seele durch ein Heer von Glaubens¬
zweifeln störten, deren Lösung er bei den Wiedertäufern nicht
fand; so kehrte er allmählig in die evangelischen Kirchen zurück,
um in ihnen Aufklärung über das wahre Christenthum zu su¬
chen, und daraus Trost für seine große Bedrängniß zu schö¬
pfen. Hierdurch zog er sich aber den strengsten Tadel eines
seiner Glaubensgenossen zu, welcher, indem er ihm das oben er¬
wähnte Lob wiederholt spendete, und seinen früheren Glaubens¬
eifer rühmte, ihm zugleich vorwarf, daß er jung, unerfahren,
und noch schwach am Verstande von der Gemeinde, welche eng

welche von mehreren Mitgliedern heftig beſtritten, von anderen
aber im ſtrengſten Sinne behauptet wurde, als ob Gott ſchon
vor Erſchaffung der Welt das Loos jedes Einzelnen zur See¬
ligkeit oder Verdammniß vorherbeſtimmt habe. Da E. zwiſchen
richtigen Begriffen und aufgedrungenen myſterioͤſen Vorſtellun¬
gen von ſeinem ſchwachen Charakter in der Schwebe erhalten
wurde; ſo half es ihm Nichts, daß er mit geſundem Urtheil
den Hochmuth der Phariſaͤer erkannte, welche ſich im Herzen
fuͤr Auserwaͤhlte hielten, um Andere zu verdammen, denn er
wurde dadurch nicht von ſeinem bangen Zweifel befreit, ob
auch er zu den Auserwaͤhlten gehoͤren moͤge, und fand keinen
nachhaltigen Troſt in der Verſicherung, daß ſeine Seeligkeit
durch die Wiedertaufe gerettet, und daß ſeine Unruhe ein Zei¬
chen der Gnadenwirkung Gottes in ſeinem heilsbegierigen Her¬
zen ſei, welches nur in einem gleichguͤltigen Gemuͤth vermißt
werde. Inzwiſchen wurden die ſtets fortgeſetzten Streitigkeiten
uͤber die Gnadenwahl mit einer ſolchen Erbitterung in harten
Worten gefuͤhrt, daß E. ſich oft dadurch in ſeinem Innern
verletzt und empoͤrt gegen die Engherzigkeit und Verachtung
fuͤhlte, welche ſeine Glaubensgenoſſen gegen Andersdenkende
offenbarten. Ein anderer oft mit Heftigkeit discutirter Con¬
troverspunkt bezog ſich auf die Wiederbringung aller Dinge,
deren Vertheidiger ſich beſonders auf die Schriften von Jung
Stilling beriefen, welcher gelehrt haben ſoll, daß die Frommen
im ewigen Leben alle Erdenguͤter und ſinnliche Luſt wieder¬
faͤnden. Dieſe myſtiſche Behauptung erſchien dem E. im vollen
Widerſpruche mit dem reinen Geiſte des Chriſtenthums, und
da er aus Geſinnung die unaufhoͤrlichen Wortkriege haßte,
welche den Frieden ſeiner Seele durch ein Heer von Glaubens¬
zweifeln ſtoͤrten, deren Loͤſung er bei den Wiedertaͤufern nicht
fand; ſo kehrte er allmaͤhlig in die evangeliſchen Kirchen zuruͤck,
um in ihnen Aufklaͤrung uͤber das wahre Chriſtenthum zu ſu¬
chen, und daraus Troſt fuͤr ſeine große Bedraͤngniß zu ſchoͤ¬
pfen. Hierdurch zog er ſich aber den ſtrengſten Tadel eines
ſeiner Glaubensgenoſſen zu, welcher, indem er ihm das oben er¬
waͤhnte Lob wiederholt ſpendete, und ſeinen fruͤheren Glaubens¬
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[175/0183] welche von mehreren Mitgliedern heftig beſtritten, von anderen aber im ſtrengſten Sinne behauptet wurde, als ob Gott ſchon vor Erſchaffung der Welt das Loos jedes Einzelnen zur See¬ ligkeit oder Verdammniß vorherbeſtimmt habe. Da E. zwiſchen richtigen Begriffen und aufgedrungenen myſterioͤſen Vorſtellun¬ gen von ſeinem ſchwachen Charakter in der Schwebe erhalten wurde; ſo half es ihm Nichts, daß er mit geſundem Urtheil den Hochmuth der Phariſaͤer erkannte, welche ſich im Herzen fuͤr Auserwaͤhlte hielten, um Andere zu verdammen, denn er wurde dadurch nicht von ſeinem bangen Zweifel befreit, ob auch er zu den Auserwaͤhlten gehoͤren moͤge, und fand keinen nachhaltigen Troſt in der Verſicherung, daß ſeine Seeligkeit durch die Wiedertaufe gerettet, und daß ſeine Unruhe ein Zei¬ chen der Gnadenwirkung Gottes in ſeinem heilsbegierigen Her¬ zen ſei, welches nur in einem gleichguͤltigen Gemuͤth vermißt werde. Inzwiſchen wurden die ſtets fortgeſetzten Streitigkeiten uͤber die Gnadenwahl mit einer ſolchen Erbitterung in harten Worten gefuͤhrt, daß E. ſich oft dadurch in ſeinem Innern verletzt und empoͤrt gegen die Engherzigkeit und Verachtung fuͤhlte, welche ſeine Glaubensgenoſſen gegen Andersdenkende offenbarten. Ein anderer oft mit Heftigkeit discutirter Con¬ troverspunkt bezog ſich auf die Wiederbringung aller Dinge, deren Vertheidiger ſich beſonders auf die Schriften von Jung Stilling beriefen, welcher gelehrt haben ſoll, daß die Frommen im ewigen Leben alle Erdenguͤter und ſinnliche Luſt wieder¬ faͤnden. Dieſe myſtiſche Behauptung erſchien dem E. im vollen Widerſpruche mit dem reinen Geiſte des Chriſtenthums, und da er aus Geſinnung die unaufhoͤrlichen Wortkriege haßte, welche den Frieden ſeiner Seele durch ein Heer von Glaubens¬ zweifeln ſtoͤrten, deren Loͤſung er bei den Wiedertaͤufern nicht fand; ſo kehrte er allmaͤhlig in die evangeliſchen Kirchen zuruͤck, um in ihnen Aufklaͤrung uͤber das wahre Chriſtenthum zu ſu¬ chen, und daraus Troſt fuͤr ſeine große Bedraͤngniß zu ſchoͤ¬ pfen. Hierdurch zog er ſich aber den ſtrengſten Tadel eines ſeiner Glaubensgenoſſen zu, welcher, indem er ihm das oben er¬ waͤhnte Lob wiederholt ſpendete, und ſeinen fruͤheren Glaubens¬ eifer ruͤhmte, ihm zugleich vorwarf, daß er jung, unerfahren, und noch ſchwach am Verſtande von der Gemeinde, welche eng

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/183>, abgerufen am 24.11.2024.