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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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in verschiedenen Familien zubrachte, sind für unser Interesse
von keinem besonderen Belang; die eigentliche Entwickelung
seines Seelenleidens wurde erst dadurch eingeleitet, daß er ein
Jahr lang von schweren Brustleiden heimgesucht, mit man¬
cherlei Kummer und Sorgen, namentlich auch über das ge¬
fährliche Erkranken mehrerer Mitglieder seiner Familie zu käm¬
pfen hatte. Geistige und körperliche Anstrengungen (letztere
auf einer weiten Reise), quälende Unruhe über das Schicksal
der entfernten Verwandten, üble häusliche Verhältnisse wirk¬
ten überaus schwächend auf seinen Körper, so daß er oft an
Nasenbluten, Schlaflosigkeit, phantastischen Träumen und Hart¬
leibigkeit litt, und in der Besorgniß schwebte, in ein schwere¬
res Nervenfieber zu verfallen. Noch widerstand er eine Zeit
lang diesen niederdrückenden Einflüssen; nachdem er sich aber
in unglücklicher Stunde durch wollüstige Wallungen zur Selbst¬
befleckung hatte verleiten lassen, und tiefe Reue ihn mehrere
Tage hindurch folterte, wurde er beim Genuß des heiligen
Abendmahls von einer religiösen Exaltation ergriffen, in wel¬
cher er eine erhöhte Geistesklarheit im tieferen Verständniß der
Bibel gewonnen zu haben glaubte. Mit der Lectüre derselben
in den nächsten Tagen vorzugsweise beschäftigt, wähnte er ei¬
ner segensreichen Ausgießung des heiligen Geistes theilhaftig ge¬
worden zu sein, und erfüllt von schwärmerischem Eifer richtete
er nicht nur salbungsreiche Reden an seine Hausgenossen, um
sie zu einer strengen Frömmigkeit zu bewegen, sondern glaubte
auch durch Gebete die Wunderheilung eines kranken Kindes bewir¬
ken zu können. Nachdem diese erregte Stimmung mehrere Tage
gedauert, und ihm den Schlaf geraubt hatte, sah er in einer
Nacht Visionen von Farben und mannigfachen Gestalten, in
deren ergötzlicher Betrachtung durch Geräusch auf der Straße
gestört er in letzterem eine Demonstration des teuflischen Prin¬
cips gegen sich voraussetzte, und sich dem Schutze Gottes und
der Engel empfahl. In Grübeleien der mannigfachsten Art
versunken glaubte er am folgenden Tage, nach einem inbrün¬
stigen Gebete, daß Christus bald wiederkehren und daß jetzt
schon die Welt eine veränderte Gestalt in himmlischer Schönheit
und Herrlichkeit annehmen werde, weshalb er auf einem Spa¬
zierganze mit seinem Stocke auf mystische Weise einen Kreis in

in verſchiedenen Familien zubrachte, ſind fuͤr unſer Intereſſe
von keinem beſonderen Belang; die eigentliche Entwickelung
ſeines Seelenleidens wurde erſt dadurch eingeleitet, daß er ein
Jahr lang von ſchweren Bruſtleiden heimgeſucht, mit man¬
cherlei Kummer und Sorgen, namentlich auch uͤber das ge¬
faͤhrliche Erkranken mehrerer Mitglieder ſeiner Familie zu kaͤm¬
pfen hatte. Geiſtige und koͤrperliche Anſtrengungen (letztere
auf einer weiten Reiſe), quaͤlende Unruhe uͤber das Schickſal
der entfernten Verwandten, uͤble haͤusliche Verhaͤltniſſe wirk¬
ten uͤberaus ſchwaͤchend auf ſeinen Koͤrper, ſo daß er oft an
Naſenbluten, Schlafloſigkeit, phantaſtiſchen Traͤumen und Hart¬
leibigkeit litt, und in der Beſorgniß ſchwebte, in ein ſchwere¬
res Nervenfieber zu verfallen. Noch widerſtand er eine Zeit
lang dieſen niederdruͤckenden Einfluͤſſen; nachdem er ſich aber
in ungluͤcklicher Stunde durch wolluͤſtige Wallungen zur Selbſt¬
befleckung hatte verleiten laſſen, und tiefe Reue ihn mehrere
Tage hindurch folterte, wurde er beim Genuß des heiligen
Abendmahls von einer religioͤſen Exaltation ergriffen, in wel¬
cher er eine erhoͤhte Geiſtesklarheit im tieferen Verſtaͤndniß der
Bibel gewonnen zu haben glaubte. Mit der Lectuͤre derſelben
in den naͤchſten Tagen vorzugsweiſe beſchaͤftigt, waͤhnte er ei¬
ner ſegensreichen Ausgießung des heiligen Geiſtes theilhaftig ge¬
worden zu ſein, und erfuͤllt von ſchwaͤrmeriſchem Eifer richtete
er nicht nur ſalbungsreiche Reden an ſeine Hausgenoſſen, um
ſie zu einer ſtrengen Froͤmmigkeit zu bewegen, ſondern glaubte
auch durch Gebete die Wunderheilung eines kranken Kindes bewir¬
ken zu koͤnnen. Nachdem dieſe erregte Stimmung mehrere Tage
gedauert, und ihm den Schlaf geraubt hatte, ſah er in einer
Nacht Viſionen von Farben und mannigfachen Geſtalten, in
deren ergoͤtzlicher Betrachtung durch Geraͤuſch auf der Straße
geſtoͤrt er in letzterem eine Demonſtration des teufliſchen Prin¬
cips gegen ſich vorausſetzte, und ſich dem Schutze Gottes und
der Engel empfahl. In Gruͤbeleien der mannigfachſten Art
verſunken glaubte er am folgenden Tage, nach einem inbruͤn¬
ſtigen Gebete, daß Chriſtus bald wiederkehren und daß jetzt
ſchon die Welt eine veraͤnderte Geſtalt in himmliſcher Schoͤnheit
und Herrlichkeit annehmen werde, weshalb er auf einem Spa¬
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[201/0209] in verſchiedenen Familien zubrachte, ſind fuͤr unſer Intereſſe von keinem beſonderen Belang; die eigentliche Entwickelung ſeines Seelenleidens wurde erſt dadurch eingeleitet, daß er ein Jahr lang von ſchweren Bruſtleiden heimgeſucht, mit man¬ cherlei Kummer und Sorgen, namentlich auch uͤber das ge¬ faͤhrliche Erkranken mehrerer Mitglieder ſeiner Familie zu kaͤm¬ pfen hatte. Geiſtige und koͤrperliche Anſtrengungen (letztere auf einer weiten Reiſe), quaͤlende Unruhe uͤber das Schickſal der entfernten Verwandten, uͤble haͤusliche Verhaͤltniſſe wirk¬ ten uͤberaus ſchwaͤchend auf ſeinen Koͤrper, ſo daß er oft an Naſenbluten, Schlafloſigkeit, phantaſtiſchen Traͤumen und Hart¬ leibigkeit litt, und in der Beſorgniß ſchwebte, in ein ſchwere¬ res Nervenfieber zu verfallen. Noch widerſtand er eine Zeit lang dieſen niederdruͤckenden Einfluͤſſen; nachdem er ſich aber in ungluͤcklicher Stunde durch wolluͤſtige Wallungen zur Selbſt¬ befleckung hatte verleiten laſſen, und tiefe Reue ihn mehrere Tage hindurch folterte, wurde er beim Genuß des heiligen Abendmahls von einer religioͤſen Exaltation ergriffen, in wel¬ cher er eine erhoͤhte Geiſtesklarheit im tieferen Verſtaͤndniß der Bibel gewonnen zu haben glaubte. Mit der Lectuͤre derſelben in den naͤchſten Tagen vorzugsweiſe beſchaͤftigt, waͤhnte er ei¬ ner ſegensreichen Ausgießung des heiligen Geiſtes theilhaftig ge¬ worden zu ſein, und erfuͤllt von ſchwaͤrmeriſchem Eifer richtete er nicht nur ſalbungsreiche Reden an ſeine Hausgenoſſen, um ſie zu einer ſtrengen Froͤmmigkeit zu bewegen, ſondern glaubte auch durch Gebete die Wunderheilung eines kranken Kindes bewir¬ ken zu koͤnnen. Nachdem dieſe erregte Stimmung mehrere Tage gedauert, und ihm den Schlaf geraubt hatte, ſah er in einer Nacht Viſionen von Farben und mannigfachen Geſtalten, in deren ergoͤtzlicher Betrachtung durch Geraͤuſch auf der Straße geſtoͤrt er in letzterem eine Demonſtration des teufliſchen Prin¬ cips gegen ſich vorausſetzte, und ſich dem Schutze Gottes und der Engel empfahl. In Gruͤbeleien der mannigfachſten Art verſunken glaubte er am folgenden Tage, nach einem inbruͤn¬ ſtigen Gebete, daß Chriſtus bald wiederkehren und daß jetzt ſchon die Welt eine veraͤnderte Geſtalt in himmliſcher Schoͤnheit und Herrlichkeit annehmen werde, weshalb er auf einem Spa¬ zierganze mit ſeinem Stocke auf myſtiſche Weiſe einen Kreis in

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/209>, abgerufen am 21.11.2024.