Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.lich alle Glaubenseiferer, welche rastlos und methodisch auf lich alle Glaubenseiferer, welche raſtlos und methodiſch auf <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0028" n="20"/> lich alle Glaubenseiferer, welche raſtlos und methodiſch auf<lb/> eine Ueberſpannung des religioͤſen Bewußtſeins hinarbeiten, und<lb/> dadurch nur allzu haͤufig zur Entſtehung des frommen Wahn¬<lb/> ſinns Veranlaſſung geben, indem ſie eine geiſtig ſittliche Wie¬<lb/> dergeburt des Menſchengeſchlechts allein auf jene Weiſe hervor¬<lb/> bringen zu koͤnnen glauben. Da nun der religioͤſe Wahnſinn<lb/> im koloſſalen Maaßſtabe alle Mißverhaͤltniſſe eines im falſchen<lb/> Glaubenseifer irre geleiteten Gemuͤths, und alle daraus ent¬<lb/> ſpringenden verderblichen und zerruͤttenden Folgen zur Anſchauung<lb/> bringt; ſo iſt ſeine gruͤndliche Kenntniß gleichſam das Mikro¬<lb/> ſkop, mit welchem der pſychologiſche Forſcher ſich das zarte und<lb/> innig verflochtene Grundgewebe der frommen Leidenſchaften<lb/> deutlich machen kann; ſie haͤlt uns einen rieſenhaften Spiegel<lb/> vor Augen, in welchem das lebendigſte und naturwahrſte Bild<lb/> alles unſaͤglichen Elends erſcheint, welches die Menſchen im<lb/> blinden Glaubenseifer uͤber ſich gebracht haben. Denn in letz¬<lb/> terem iſt vorzugsweiſe die furchtbare Gewalt enthalten, welche<lb/> dem Menſchen alle Segnungen des Himmels, den aͤchten Glau¬<lb/> ben, die Liebe und Hoffnung raubt, ſeine Anſchauung Gottes<lb/> in fratzenhafte Wahngebilde verkehrt, ihn mit Verzweiflung,<lb/> Raſerei oder aberwitziger Selbſtbethoͤrung erfuͤllt, indem er der<lb/> Gnade Gottes verluſtig gegangen zu ſein glaubt, oder mit fa¬<lb/> natiſchem Grimme das ganze Menſchengeſchlecht vor das Blut¬<lb/> gericht der Inquiſition ſtellen, oder ſelbſt den Thron der Welt¬<lb/> regierung einnehmen will, damit auf allen Altaͤren die Andacht<lb/> ihm ihre Opfer bringe. Giebt es im ganzen Gebiete des von<lb/> zahlloſen Widerſpruͤchen zerriſſenen Lebens eine ſchneidendere<lb/> Ironie, eine verderblichere Selbſttaͤuſchung, ein unvermeidliche¬<lb/> rer Untergang, wo Alles ſich vereinigt, was dem Menſchen ſein<lb/> Daſein, ſein Streben zur abſoluten Luͤge machen kann? Gott allein<lb/> weiß es, welche zelotiſche Eiferer ihr Herz von jeder Selbſt¬<lb/> ſucht frei erhalten haben, und nur im Antriebe einer uͤberſpann¬<lb/> ten Froͤmmigkeit handeln, zum Unterſchiede von jenen, welche<lb/> vom Glauben ganz denſelben Gebrauch machen, wie die Chi¬<lb/> neſen vom Opium, deſſen Duͤnſte ſie heimlich in ein Zimmer<lb/> leiten, um die Bewohner deſſelben zu betaͤuben, und ſie dann<lb/> bequem zu berauben. Um letztere uͤber ihr Treiben zur Be¬<lb/> ſinnung zu bringen, gaͤbe es meines Erachtens kein wirkſame¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [20/0028]
lich alle Glaubenseiferer, welche raſtlos und methodiſch auf
eine Ueberſpannung des religioͤſen Bewußtſeins hinarbeiten, und
dadurch nur allzu haͤufig zur Entſtehung des frommen Wahn¬
ſinns Veranlaſſung geben, indem ſie eine geiſtig ſittliche Wie¬
dergeburt des Menſchengeſchlechts allein auf jene Weiſe hervor¬
bringen zu koͤnnen glauben. Da nun der religioͤſe Wahnſinn
im koloſſalen Maaßſtabe alle Mißverhaͤltniſſe eines im falſchen
Glaubenseifer irre geleiteten Gemuͤths, und alle daraus ent¬
ſpringenden verderblichen und zerruͤttenden Folgen zur Anſchauung
bringt; ſo iſt ſeine gruͤndliche Kenntniß gleichſam das Mikro¬
ſkop, mit welchem der pſychologiſche Forſcher ſich das zarte und
innig verflochtene Grundgewebe der frommen Leidenſchaften
deutlich machen kann; ſie haͤlt uns einen rieſenhaften Spiegel
vor Augen, in welchem das lebendigſte und naturwahrſte Bild
alles unſaͤglichen Elends erſcheint, welches die Menſchen im
blinden Glaubenseifer uͤber ſich gebracht haben. Denn in letz¬
terem iſt vorzugsweiſe die furchtbare Gewalt enthalten, welche
dem Menſchen alle Segnungen des Himmels, den aͤchten Glau¬
ben, die Liebe und Hoffnung raubt, ſeine Anſchauung Gottes
in fratzenhafte Wahngebilde verkehrt, ihn mit Verzweiflung,
Raſerei oder aberwitziger Selbſtbethoͤrung erfuͤllt, indem er der
Gnade Gottes verluſtig gegangen zu ſein glaubt, oder mit fa¬
natiſchem Grimme das ganze Menſchengeſchlecht vor das Blut¬
gericht der Inquiſition ſtellen, oder ſelbſt den Thron der Welt¬
regierung einnehmen will, damit auf allen Altaͤren die Andacht
ihm ihre Opfer bringe. Giebt es im ganzen Gebiete des von
zahlloſen Widerſpruͤchen zerriſſenen Lebens eine ſchneidendere
Ironie, eine verderblichere Selbſttaͤuſchung, ein unvermeidliche¬
rer Untergang, wo Alles ſich vereinigt, was dem Menſchen ſein
Daſein, ſein Streben zur abſoluten Luͤge machen kann? Gott allein
weiß es, welche zelotiſche Eiferer ihr Herz von jeder Selbſt¬
ſucht frei erhalten haben, und nur im Antriebe einer uͤberſpann¬
ten Froͤmmigkeit handeln, zum Unterſchiede von jenen, welche
vom Glauben ganz denſelben Gebrauch machen, wie die Chi¬
neſen vom Opium, deſſen Duͤnſte ſie heimlich in ein Zimmer
leiten, um die Bewohner deſſelben zu betaͤuben, und ſie dann
bequem zu berauben. Um letztere uͤber ihr Treiben zur Be¬
ſinnung zu bringen, gaͤbe es meines Erachtens kein wirkſame¬
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