Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.der Kirchen- und Weltgeschichte nur bruchstücksweise gegeben, Indem ich daher zunächst eine Sammlung von eigenen der Kirchen- und Weltgeſchichte nur bruchſtuͤcksweiſe gegeben, Indem ich daher zunaͤchſt eine Sammlung von eigenen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0031" n="23"/> der Kirchen- und Weltgeſchichte nur bruchſtuͤcksweiſe gegeben,<lb/> da derſelbe wie ein aus Grabesnacht auftauchendes Geſpenſt<lb/> in den Reihen thatkraͤftiger Geſtalten, welche uͤberall den Vor¬<lb/> dergrund der Geſchichte einnehmen muͤſſen, zur bedeutungsloſen,<lb/> kaum bemerkten Erſcheinung wird, von welcher der Hiſtoriker<lb/> ſich mit Grauen abwendet. Um ihn ganz kennen zu lernen,<lb/> muß man ſich voͤllig in ihn hineinleben, indem man ſich ſo<lb/> viel als moͤglich in das verduͤſterte und zerriſſene Bewußtſein<lb/> ſeiner Opfer verſetzt, um durch fortgeſetzte Betrachtung ſeiner<lb/> Mißverhaͤltniſſe in ihnen die innere Nothwendigkeit ſeiner Ent¬<lb/> ſtehung zu erſpaͤhen. Erſt nachdem ſich das geiſtige Auge lange<lb/> an die in der irren Seele herrſchende Finſterniß gewoͤhnt hat,<lb/> erblickt es in ihr das geheimnißvolle Walten ihrer unverbruͤch¬<lb/> lichen Geſetze, welche auch noch den chaotiſchen Traͤumen des<lb/> Wahns eine tiefverhuͤllte organiſche Geſtalt verleihen, und ſie<lb/> dadurch zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft machen. Iſt auf<lb/> dieſe Weiſe der Schluͤſſel zur Deutung des Wahnſinns gefun¬<lb/> den, dann werden auch die verſtuͤmmelten Thatſachen verſtaͤnd¬<lb/> lich, welche in den hiſtoriſchen Urkunden enthalten ſind, und<lb/> man darf alsdann hoffen, aus ihnen eine vollſtaͤndige Theorie<lb/> zu entwickeln, deren Licht eine unerwartete Aufklaͤrung in<lb/> zahlreiche unaufgeloͤſete Raͤthſel des Lebens werfen wird, welche<lb/> als Glaubenszweifel auch die ſtaͤrkſten und friſcheſten Gemuͤther<lb/> verſtoͤren muͤſſen.</p><lb/> <p>Indem ich daher zunaͤchſt eine Sammlung von eigenen<lb/> Beobachtungen des religioͤſen Wahnſinns der Oeffentlichkeit uͤber¬<lb/> gebe, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich mich dabei faſt<lb/> ausſchließlich auf eine rein hiſtoriſche Schilderung beſchraͤnkt,<lb/> und nur ſelten einige reflectirende Betrachtungen eingeflochten<lb/> habe. In der Gruppirung der Thatſachen muß ſchon die An¬<lb/> deutung ihres Entwickelungsgeſetzes enthalten ſein, deſſen wiſ¬<lb/> ſenſchaftliche Darſtellung eine viel zu umfaſſende Aufgabe iſt,<lb/> als daß ſie beilaͤufig in einzelne Krankheitsgeſchichten aufge¬<lb/> nommen werden koͤnnte. Den Verſuch einer Theorie des reli¬<lb/> gioͤſen Wahnſinns muß ich mir auf eine ſpaͤtere Schrift vor¬<lb/> behalten, von welcher die vorliegende nur eine thatſaͤchliche<lb/> Einleitung ſein ſoll, und den mannigfachen Einwuͤrfen, welche<lb/> dieſem Buche wahrſcheinlich entgegentreten werden, kann ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [23/0031]
der Kirchen- und Weltgeſchichte nur bruchſtuͤcksweiſe gegeben,
da derſelbe wie ein aus Grabesnacht auftauchendes Geſpenſt
in den Reihen thatkraͤftiger Geſtalten, welche uͤberall den Vor¬
dergrund der Geſchichte einnehmen muͤſſen, zur bedeutungsloſen,
kaum bemerkten Erſcheinung wird, von welcher der Hiſtoriker
ſich mit Grauen abwendet. Um ihn ganz kennen zu lernen,
muß man ſich voͤllig in ihn hineinleben, indem man ſich ſo
viel als moͤglich in das verduͤſterte und zerriſſene Bewußtſein
ſeiner Opfer verſetzt, um durch fortgeſetzte Betrachtung ſeiner
Mißverhaͤltniſſe in ihnen die innere Nothwendigkeit ſeiner Ent¬
ſtehung zu erſpaͤhen. Erſt nachdem ſich das geiſtige Auge lange
an die in der irren Seele herrſchende Finſterniß gewoͤhnt hat,
erblickt es in ihr das geheimnißvolle Walten ihrer unverbruͤch¬
lichen Geſetze, welche auch noch den chaotiſchen Traͤumen des
Wahns eine tiefverhuͤllte organiſche Geſtalt verleihen, und ſie
dadurch zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft machen. Iſt auf
dieſe Weiſe der Schluͤſſel zur Deutung des Wahnſinns gefun¬
den, dann werden auch die verſtuͤmmelten Thatſachen verſtaͤnd¬
lich, welche in den hiſtoriſchen Urkunden enthalten ſind, und
man darf alsdann hoffen, aus ihnen eine vollſtaͤndige Theorie
zu entwickeln, deren Licht eine unerwartete Aufklaͤrung in
zahlreiche unaufgeloͤſete Raͤthſel des Lebens werfen wird, welche
als Glaubenszweifel auch die ſtaͤrkſten und friſcheſten Gemuͤther
verſtoͤren muͤſſen.
Indem ich daher zunaͤchſt eine Sammlung von eigenen
Beobachtungen des religioͤſen Wahnſinns der Oeffentlichkeit uͤber¬
gebe, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich mich dabei faſt
ausſchließlich auf eine rein hiſtoriſche Schilderung beſchraͤnkt,
und nur ſelten einige reflectirende Betrachtungen eingeflochten
habe. In der Gruppirung der Thatſachen muß ſchon die An¬
deutung ihres Entwickelungsgeſetzes enthalten ſein, deſſen wiſ¬
ſenſchaftliche Darſtellung eine viel zu umfaſſende Aufgabe iſt,
als daß ſie beilaͤufig in einzelne Krankheitsgeſchichten aufge¬
nommen werden koͤnnte. Den Verſuch einer Theorie des reli¬
gioͤſen Wahnſinns muß ich mir auf eine ſpaͤtere Schrift vor¬
behalten, von welcher die vorliegende nur eine thatſaͤchliche
Einleitung ſein ſoll, und den mannigfachen Einwuͤrfen, welche
dieſem Buche wahrſcheinlich entgegentreten werden, kann ich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |