Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.eifrige Andachtsübungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbesuch Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0039" n="31"/> eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch<lb/> die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber<lb/> ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß<lb/> er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen<lb/> des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer<lb/> laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten<lb/> Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬<lb/> gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬<lb/> liche Haltung ſich erringen.</p><lb/> <p>Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten<lb/> Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein,<lb/> doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von<lb/> ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬<lb/> gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen.<lb/> R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬<lb/> gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das<lb/> heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen<lb/> erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei<lb/> ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und<lb/> er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht<lb/> ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr<lb/> er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬<lb/> druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬<lb/> ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬<lb/> ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm<lb/> gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung<lb/> zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬<lb/> ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬<lb/> zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in<lb/> einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬<lb/> armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬<lb/> gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬<lb/> deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam;<lb/> dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬<lb/> ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬<lb/> te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen<lb/> Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu<lb/> erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [31/0039]
eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch
die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber
ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß
er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen
des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer
laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten
Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬
gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬
liche Haltung ſich erringen.
Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten
Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein,
doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von
ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬
gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen.
R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬
gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das
heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen
erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei
ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und
er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht
ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr
er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬
druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬
ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬
ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm
gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung
zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬
ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬
zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in
einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬
armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬
gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬
deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam;
dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬
ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬
te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen
Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu
erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen
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