Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.daß es ihr gänzlich an Kraft gebrach, sich jenem mystischen Das Uebel ist daher weit schlimmer, als es dem Unkun¬ daß es ihr gaͤnzlich an Kraft gebrach, ſich jenem myſtiſchen Das Uebel iſt daher weit ſchlimmer, als es dem Unkun¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0085" n="77"/> daß es ihr gaͤnzlich an Kraft gebrach, ſich jenem myſtiſchen<lb/> Einfluͤſſe zu entziehen. Alle myſtiſchen Regungen ſind aber<lb/> außerordentlich ſchwer zu unterdruͤcken, da ſie ſich ganz dem<lb/> Gebiete der deutlichen Begriffe entziehen, und dennoch eine ſo<lb/> große Gewalt uͤber die Seele ausuͤben, weil ſie das Bewußt¬<lb/> ſein dergeſtalt in Feſſeln ſchlagen, daß die ſchaͤrfſte Dialektik<lb/> mit allen moͤglichen Pflicht- und Erfahrungsbegriffen nicht den<lb/> geringſten Eindruck auf den ganz verdumpften Verſtand macht.<lb/> Ja die Myſtik paralyſirt geradezu die geſammte Denkkraft in<lb/> einem ſolchen Grade, daß letztere kaum mehr bei voͤlligem<lb/> Widerſpruche der Vorſtellungen der Nothwendigkeit ihrer Aus¬<lb/> gleichung inne wird, und hoͤchſtens in kraftloſen Verſuchen<lb/> dazu ihre Ohnmacht erfaͤhrt. Unausgeglichene Widerſpruͤche<lb/> haben aber eine truͤbe, innerlich zerſtoͤrende Gaͤhrung des Den¬<lb/> kens zur unvermeidlichen Folge, deren letzter Ausgang eine voͤl¬<lb/> lige Geiſtesverwirrung, naͤmlich eine gaͤnzliche Aufloͤſung des<lb/> logiſchen Zuſammenhangs alles Denkens ſein muß. In die¬<lb/> ſen Saͤtzen liegt die vollſtaͤndige Erklaͤrung der unermeßlichen<lb/> Macht, welche die fanatiſche Hierarchie bis auf den heutigen<lb/> Tag uͤber das Menſchengeſchlecht ausgeuͤbt hat, einer Macht,<lb/> welche ſchlechthin unbegreiflich ſein muͤßte, da ſie in abſoluter<lb/> Feindſchaft mit allen menſchlichen Gefuͤhlen und Beſtrebungen,<lb/> ſo wie mit den ewigen Wahrheiten der reinen Chriſtuslehre,<lb/> laͤngſt von dieſen heiligen Intereſſen im Bunde mit der Wiſ¬<lb/> ſenſchaft und Vernunft vertilgt worden waͤre, wenn ſie nicht<lb/> in dem Dunkel myſtiſcher Gefuͤhle eine faſt unangreifbare Stel¬<lb/> lung behauptete, von welcher aus ſie die Gemuͤther der un¬<lb/> aufgeklaͤrten Maſſen mit despotiſcher Gewalt beherrſcht.</p><lb/> <p>Das Uebel iſt daher weit ſchlimmer, als es dem Unkun¬<lb/> digen ſcheint, welcher ſich durch ſolche Zuſtaͤnde leicht taͤuſchen<lb/> laͤßt, wenn ihnen nicht durch grelle Wahnvorſtellungen ein<lb/> auffallend verkehrtes Anſehen gegeben wird. Die Schwierig¬<lb/> keit des Heilverfahrens trat bei der W. in einem beſonders<lb/> hohen Grade hervor, da ſie ſchon ſeit einer Reihe von Jah¬<lb/> ren vergebens gegen jene ihr Denken desorganiſirende Macht<lb/> einer fanatiſchen Myſtik gerungen hatte, niemals uͤber ihre<lb/> Zweifel aufgeklaͤrt wurde, und jeden Vorſatz, aus der Secte<lb/> der Wiedertaͤufer auszuſcheiden, ſcheitern ſah. Was half es<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [77/0085]
daß es ihr gaͤnzlich an Kraft gebrach, ſich jenem myſtiſchen
Einfluͤſſe zu entziehen. Alle myſtiſchen Regungen ſind aber
außerordentlich ſchwer zu unterdruͤcken, da ſie ſich ganz dem
Gebiete der deutlichen Begriffe entziehen, und dennoch eine ſo
große Gewalt uͤber die Seele ausuͤben, weil ſie das Bewußt¬
ſein dergeſtalt in Feſſeln ſchlagen, daß die ſchaͤrfſte Dialektik
mit allen moͤglichen Pflicht- und Erfahrungsbegriffen nicht den
geringſten Eindruck auf den ganz verdumpften Verſtand macht.
Ja die Myſtik paralyſirt geradezu die geſammte Denkkraft in
einem ſolchen Grade, daß letztere kaum mehr bei voͤlligem
Widerſpruche der Vorſtellungen der Nothwendigkeit ihrer Aus¬
gleichung inne wird, und hoͤchſtens in kraftloſen Verſuchen
dazu ihre Ohnmacht erfaͤhrt. Unausgeglichene Widerſpruͤche
haben aber eine truͤbe, innerlich zerſtoͤrende Gaͤhrung des Den¬
kens zur unvermeidlichen Folge, deren letzter Ausgang eine voͤl¬
lige Geiſtesverwirrung, naͤmlich eine gaͤnzliche Aufloͤſung des
logiſchen Zuſammenhangs alles Denkens ſein muß. In die¬
ſen Saͤtzen liegt die vollſtaͤndige Erklaͤrung der unermeßlichen
Macht, welche die fanatiſche Hierarchie bis auf den heutigen
Tag uͤber das Menſchengeſchlecht ausgeuͤbt hat, einer Macht,
welche ſchlechthin unbegreiflich ſein muͤßte, da ſie in abſoluter
Feindſchaft mit allen menſchlichen Gefuͤhlen und Beſtrebungen,
ſo wie mit den ewigen Wahrheiten der reinen Chriſtuslehre,
laͤngſt von dieſen heiligen Intereſſen im Bunde mit der Wiſ¬
ſenſchaft und Vernunft vertilgt worden waͤre, wenn ſie nicht
in dem Dunkel myſtiſcher Gefuͤhle eine faſt unangreifbare Stel¬
lung behauptete, von welcher aus ſie die Gemuͤther der un¬
aufgeklaͤrten Maſſen mit despotiſcher Gewalt beherrſcht.
Das Uebel iſt daher weit ſchlimmer, als es dem Unkun¬
digen ſcheint, welcher ſich durch ſolche Zuſtaͤnde leicht taͤuſchen
laͤßt, wenn ihnen nicht durch grelle Wahnvorſtellungen ein
auffallend verkehrtes Anſehen gegeben wird. Die Schwierig¬
keit des Heilverfahrens trat bei der W. in einem beſonders
hohen Grade hervor, da ſie ſchon ſeit einer Reihe von Jah¬
ren vergebens gegen jene ihr Denken desorganiſirende Macht
einer fanatiſchen Myſtik gerungen hatte, niemals uͤber ihre
Zweifel aufgeklaͤrt wurde, und jeden Vorſatz, aus der Secte
der Wiedertaͤufer auszuſcheiden, ſcheitern ſah. Was half es
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