Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.eine große Schweigsamkeit, führte ein von ihren Altersgenos¬ Mit jedem Jahre verschlimmerte sich die Lage ihrer Aeltern, eine große Schweigſamkeit, fuͤhrte ein von ihren Altersgenoſ¬ Mit jedem Jahre verſchlimmerte ſich die Lage ihrer Aeltern, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0088" n="80"/> eine große Schweigſamkeit, fuͤhrte ein von ihren Altersgenoſ¬<lb/> ſen zuruͤckgezogenes Leben, weil ihr zarter, empfaͤnglicher Sinn<lb/> durch die Vorſtellung des haͤuslichen Elendes zeitig verduͤſtert<lb/> wurde, und ſich auf den Ernſt der Lebensbeduͤrfniſſe richtete,<lb/> ſo daß ſie bereits im 10. Jahre bei der Fuͤhrung der haͤusli¬<lb/> chen Geſchaͤfte und bei der Pflege ihrer Geſchwiſter eine große<lb/> Umſicht, Geſchicklichkeit und Thaͤtigkeit entwickelte. Durch die<lb/> haͤufigen Andachtsuͤbungen ihrer Aeltern wurde ihr religioͤſes<lb/> Gefuͤhl zeitig geweckt, und bei der ſtets herrſchenden Noth bald<lb/> in eine ſchwaͤrmeriſche Stimmung verſetzt, welche ſich um ſo<lb/> leichter erklaͤrt, je mehr ihr zartes, leicht erregbares Gemuͤth<lb/> von einer durch die geringfuͤgigſten Ereigniſſe verletzbaren Reiz¬<lb/> barkeit beherrſcht wurde. Der Contraſt ihres von den bitter¬<lb/> ſten Leiden und Entbehrungen erfuͤllten Lebens mit der geiſti¬<lb/> gen Erhebung durch jene Andachtsuͤbungen ließ ſie letztere ſo<lb/> lieb gewinnen, daß ſie ſchon fruͤhzeitig in religioͤſe Betrachtun¬<lb/> gen ſich vertiefte, und eine wahre Sehnſucht nach der unmit¬<lb/> telbaren Anſchauung Gottes und der Engel empfand, deren<lb/> Herrlichkeit ſie mit mannigfachen Bildern der Phantaſie ſich zu<lb/> vergegenwaͤrtigen ſtrebte.</p><lb/> <p>Mit jedem Jahre verſchlimmerte ſich die Lage ihrer Aeltern,<lb/> ſo daß ſie von hartherzigen Glaͤubigern ausgepluͤndert oft die<lb/> druͤckendſte Noth leiden mußten, welche fuͤr ſie um ſo uner¬<lb/> traͤglicher war, da ihr ſittlicher Charakter ihnen die ſchlimme<lb/> Selbſthuͤlfe der Bettelei abſchnitt. Wie haͤtte das weiche Ge¬<lb/> muͤth unſrer Kranken bei taͤglicher Theilnahme an den haͤrte¬<lb/> ſten leiden nicht den letzten Reſt von Heiterkeit und Neigung<lb/> zur Geſelligkeit einbuͤßen ſollen? Sie wurde immer ſchweigſa¬<lb/> mer und menſchenſcheuer, und in dem Maaße, als unter dem<lb/> ſteten Druck der haͤrteſten Drangſale ihre ſchwache Kraft er¬<lb/> lahmte, verlor ſie allmaͤhlig die Neigung, im Hausweſen thaͤ¬<lb/> tig zu ſein, da ſie nur nach Troſt im eifrigen Leſen von An¬<lb/> dachtsbuͤchern fand. Ihrer ſchwaͤrmeriſchen Stimmung ent¬<lb/> ſprach vornaͤmlich die Erzaͤhlung von Heiligen und von Wun¬<lb/> dern, welche Gott an Frommen offenbarte, wodurch ſich ihr<lb/> das Reich der himmliſchen Gnade eroͤffnete, welche ſo oft der<lb/> groͤßten Noth unmittelbare Huͤlfe gebracht hat. Durch die<lb/> Schilderung der Barmherzigkeit Gottes gegen Ungluͤckliche,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [80/0088]
eine große Schweigſamkeit, fuͤhrte ein von ihren Altersgenoſ¬
ſen zuruͤckgezogenes Leben, weil ihr zarter, empfaͤnglicher Sinn
durch die Vorſtellung des haͤuslichen Elendes zeitig verduͤſtert
wurde, und ſich auf den Ernſt der Lebensbeduͤrfniſſe richtete,
ſo daß ſie bereits im 10. Jahre bei der Fuͤhrung der haͤusli¬
chen Geſchaͤfte und bei der Pflege ihrer Geſchwiſter eine große
Umſicht, Geſchicklichkeit und Thaͤtigkeit entwickelte. Durch die
haͤufigen Andachtsuͤbungen ihrer Aeltern wurde ihr religioͤſes
Gefuͤhl zeitig geweckt, und bei der ſtets herrſchenden Noth bald
in eine ſchwaͤrmeriſche Stimmung verſetzt, welche ſich um ſo
leichter erklaͤrt, je mehr ihr zartes, leicht erregbares Gemuͤth
von einer durch die geringfuͤgigſten Ereigniſſe verletzbaren Reiz¬
barkeit beherrſcht wurde. Der Contraſt ihres von den bitter¬
ſten Leiden und Entbehrungen erfuͤllten Lebens mit der geiſti¬
gen Erhebung durch jene Andachtsuͤbungen ließ ſie letztere ſo
lieb gewinnen, daß ſie ſchon fruͤhzeitig in religioͤſe Betrachtun¬
gen ſich vertiefte, und eine wahre Sehnſucht nach der unmit¬
telbaren Anſchauung Gottes und der Engel empfand, deren
Herrlichkeit ſie mit mannigfachen Bildern der Phantaſie ſich zu
vergegenwaͤrtigen ſtrebte.
Mit jedem Jahre verſchlimmerte ſich die Lage ihrer Aeltern,
ſo daß ſie von hartherzigen Glaͤubigern ausgepluͤndert oft die
druͤckendſte Noth leiden mußten, welche fuͤr ſie um ſo uner¬
traͤglicher war, da ihr ſittlicher Charakter ihnen die ſchlimme
Selbſthuͤlfe der Bettelei abſchnitt. Wie haͤtte das weiche Ge¬
muͤth unſrer Kranken bei taͤglicher Theilnahme an den haͤrte¬
ſten leiden nicht den letzten Reſt von Heiterkeit und Neigung
zur Geſelligkeit einbuͤßen ſollen? Sie wurde immer ſchweigſa¬
mer und menſchenſcheuer, und in dem Maaße, als unter dem
ſteten Druck der haͤrteſten Drangſale ihre ſchwache Kraft er¬
lahmte, verlor ſie allmaͤhlig die Neigung, im Hausweſen thaͤ¬
tig zu ſein, da ſie nur nach Troſt im eifrigen Leſen von An¬
dachtsbuͤchern fand. Ihrer ſchwaͤrmeriſchen Stimmung ent¬
ſprach vornaͤmlich die Erzaͤhlung von Heiligen und von Wun¬
dern, welche Gott an Frommen offenbarte, wodurch ſich ihr
das Reich der himmliſchen Gnade eroͤffnete, welche ſo oft der
groͤßten Noth unmittelbare Huͤlfe gebracht hat. Durch die
Schilderung der Barmherzigkeit Gottes gegen Ungluͤckliche,
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