Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.zu einem lebendigen Bewußtsein aufzurichten, wenn auch die Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Stärke die zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0092" n="84"/> zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die<lb/> Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur<lb/> noch weiter geworden war.</p><lb/> <p>Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die<lb/> Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt<lb/> worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch<lb/> nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb<lb/> weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬<lb/> men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen<lb/> nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn<lb/> je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft<lb/> mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth<lb/> ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt<lb/> der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬<lb/> ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich<lb/> des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte,<lb/> bis daſſelbe von dem Glan<gap unit="chars" quantity="1"/>e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬<lb/> hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬<lb/> ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬<lb/> ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬<lb/> digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre<lb/> Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche<lb/> und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte,<lb/> bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes.<lb/> Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬<lb/> ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen<lb/> laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬<lb/> dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬<lb/> taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte<lb/> nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬<lb/> punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬<lb/> wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der<lb/> Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit<lb/> der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der<lb/> Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬<lb/> ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe<lb/> im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬<lb/> ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [84/0092]
zu einem lebendigen Bewußtſein aufzurichten, wenn auch die
Kluft, welche ſie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur
noch weiter geworden war.
Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die
Vorſtellung, alle Noth ſei von Gott deshalb uͤber ſie verhaͤngt
worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnſtig genug, ihr Sinn noch
nicht vollſtaͤndig vom Irdiſchen abgelenkt geweſen ſei. Deshalb
weihte ſie ſich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬
men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebniſſen
nun den voͤlligen Charakter des Wahnſinns annahmen. Denn
je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinſchaft
mit Gott zu treten, um ſo vollſtaͤndiger mußte auch die Gluth
ihrer Gefuͤhle das Bewußtſein dergeſtalt durchdringen, daß ſelbſt
der aͤußere Sinn nicht mehr dem phyſiologiſchen Geſetz der An¬
ſchauung gehorchte, ſondern von der Außenwelt in das Reich
des Uebernatuͤrlichen abſchweifend in deſſen Dunkel hineinſtarrte,
bis daſſelbe von dem Glan_e des ſelbſtgeſchaffenen Wahns er¬
hellt wurde. Nachdem ſie Tage und Naͤchte im raſtloſen Be¬
ten zugebracht, und ſich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬
ſetzt hatte, erſchien ihr Gott in ſtrahlender Majeſtaͤt mit gnaͤ¬
digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre
Gebete erhoͤrt habe. Daß ſie in dieſer Viſion eine untruͤgliche
und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤſſen glaubte,
bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweiſes.
Eine ſpaͤtere Chriſtuſerſcheinung abgerechnet will ſie fernere Vi¬
ſionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf ſchließen
laͤßt, daß die Entſtehung derſelben bei ihr nur unter der Be¬
dingung der furchtbarſten Gemuͤthserſchuͤtterung durch jene Ka¬
taſtrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzuſtand kehrte
nicht wieder, ſondern es war nun ein entſcheidender Wende¬
punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬
wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der
Gemuͤthsverfaſſung eintreten mußte. Bis dahin hatte ſie mit
der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweiſe der
Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬
ßen Sehnſucht mußte dieſelbe noch ſteigern. Jetzt war dieſelbe
im vollen Maaße durch die Erſcheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬
ternde Angſt war fuͤr immer beſchwichtigt, und es bedurfte nur
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