Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.noch andächtige Herzensergießungen die Zeit unsrer Kranken Am 27. August 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬ noch andaͤchtige Herzensergießungen die Zeit unſrer Kranken Am 27. Auguſt 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0094" n="86"/> noch andaͤchtige Herzensergießungen die Zeit unſrer Kranken<lb/> erfuͤllten, begreift ſich leicht. Inzwiſchen war ſie, von ihrer<lb/> Verwandtin huͤlflos gelaſſen, in die bitterſte Noth gerathen,<lb/> da ſie an Erwerbsthaͤtigkeit nicht im Entfernteſten dachte, ſon¬<lb/> dern die Ueberzeugung hegte, daß Gottes Gnade ſie mit Klei¬<lb/> dern, Speiſen, Wohnung und anderen Lebensbeduͤrfniſſen zur<lb/> Genuͤge verſehen werde. So erregte ſie die Aufmerkſamkeit<lb/> der Polizei, und da ſie ſich uͤber ihre Verhaͤltniſſe nicht genuͤ¬<lb/> gend ausweiſen konnte, wurde ſie ins Gefaͤngniß gefuͤhrt. Hier<lb/> mußte ihr frommer Sinn uͤber die aͤrgerlichen Geſpraͤche des<lb/> Geſindels, mit welchem ſie zuſammengeſperrt war, in Entruͤ¬<lb/> ſtung gerathen, daher ſie denn im Bekehrungseifer zur Buße<lb/> und zum gottſeeligen Wandel dringend ermahnte, ſich aber nur<lb/> bitteren Spott und Verhoͤhnung zuzog.</p><lb/> <p>Am 27. Auguſt 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬<lb/> rité, woſelbſt ſie zuerſt der Abtheilung fuͤr innere Kranke uͤber¬<lb/> wieſen wurde. Sie brachte daſelbſt ihre ganze Zeit mit Beten<lb/> und Bibelleſen zu, lag dabei Stunden lang auch bei Nacht<lb/> in einer Ecke des Zimmers auf den Knieen, und weigerte ſich<lb/> hartnaͤckig, weibliche Arbeiten zu verrichten, indem ſie ſagte,<lb/> ſie muͤſſe Gott dienen, denn es ſtehe geſchrieben, betet ohne<lb/> Unterlaß, der liebe Gott werde ſchon Arbeiter fuͤr ſie finden.<lb/> Allen Einwendungen und Aufforderungen ſetzte ſie ſtets eine<lb/> Menge falſch angewandter Bibelſpruͤche entgegen, und gegen<lb/> ihre fruͤher zaͤrtlich geliebte Mutter zeigte ſie eine große Kaͤlte.<lb/> Sie wurde daher auf die Irrenabtheilung verlegt, woſelbſt ihr<lb/> Seelenzuſtand ſich unter den naͤmlichen Erſcheinungen darſtellte.<lb/> Unter anderem ſagte ſie noch aus, daß auch Chriſtus das Haupt<lb/> von einer Glorie umgeben, einmal waͤhrend ihres inbruͤnſtigen<lb/> Gebets zur Thuͤre hereingekommen ſei, ſich gegen ſie verneigt<lb/> habe, ohne jedoch ein Wort zu ſprechen, und hierauf verſchwun¬<lb/> den ſei, daher es denn ihre Pflicht ſei, ſich ununterbrochenen<lb/> Andachtsuͤbungen hinzugeben, um ſich die ihr beſonders wieder¬<lb/> fahrene goͤttliche Gnade zu erhalten, durch welche ſie jeder<lb/> Sorge fuͤr ihren Lebensunterhalt uͤberhoben ſei, da dieſen ihr<lb/> zu verſchaffen anderen Menſchen obliege. Bei einer anderen<lb/> Gelegenheit gab ſie Folgendes an: einſt habe ſie in ihrem Bette<lb/> gelegen, da ſei ihr der Hals ploͤtzlich ſo zugeſchnuͤrt worden, als<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [86/0094]
noch andaͤchtige Herzensergießungen die Zeit unſrer Kranken
erfuͤllten, begreift ſich leicht. Inzwiſchen war ſie, von ihrer
Verwandtin huͤlflos gelaſſen, in die bitterſte Noth gerathen,
da ſie an Erwerbsthaͤtigkeit nicht im Entfernteſten dachte, ſon¬
dern die Ueberzeugung hegte, daß Gottes Gnade ſie mit Klei¬
dern, Speiſen, Wohnung und anderen Lebensbeduͤrfniſſen zur
Genuͤge verſehen werde. So erregte ſie die Aufmerkſamkeit
der Polizei, und da ſie ſich uͤber ihre Verhaͤltniſſe nicht genuͤ¬
gend ausweiſen konnte, wurde ſie ins Gefaͤngniß gefuͤhrt. Hier
mußte ihr frommer Sinn uͤber die aͤrgerlichen Geſpraͤche des
Geſindels, mit welchem ſie zuſammengeſperrt war, in Entruͤ¬
ſtung gerathen, daher ſie denn im Bekehrungseifer zur Buße
und zum gottſeeligen Wandel dringend ermahnte, ſich aber nur
bitteren Spott und Verhoͤhnung zuzog.
Am 27. Auguſt 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬
rité, woſelbſt ſie zuerſt der Abtheilung fuͤr innere Kranke uͤber¬
wieſen wurde. Sie brachte daſelbſt ihre ganze Zeit mit Beten
und Bibelleſen zu, lag dabei Stunden lang auch bei Nacht
in einer Ecke des Zimmers auf den Knieen, und weigerte ſich
hartnaͤckig, weibliche Arbeiten zu verrichten, indem ſie ſagte,
ſie muͤſſe Gott dienen, denn es ſtehe geſchrieben, betet ohne
Unterlaß, der liebe Gott werde ſchon Arbeiter fuͤr ſie finden.
Allen Einwendungen und Aufforderungen ſetzte ſie ſtets eine
Menge falſch angewandter Bibelſpruͤche entgegen, und gegen
ihre fruͤher zaͤrtlich geliebte Mutter zeigte ſie eine große Kaͤlte.
Sie wurde daher auf die Irrenabtheilung verlegt, woſelbſt ihr
Seelenzuſtand ſich unter den naͤmlichen Erſcheinungen darſtellte.
Unter anderem ſagte ſie noch aus, daß auch Chriſtus das Haupt
von einer Glorie umgeben, einmal waͤhrend ihres inbruͤnſtigen
Gebets zur Thuͤre hereingekommen ſei, ſich gegen ſie verneigt
habe, ohne jedoch ein Wort zu ſprechen, und hierauf verſchwun¬
den ſei, daher es denn ihre Pflicht ſei, ſich ununterbrochenen
Andachtsuͤbungen hinzugeben, um ſich die ihr beſonders wieder¬
fahrene goͤttliche Gnade zu erhalten, durch welche ſie jeder
Sorge fuͤr ihren Lebensunterhalt uͤberhoben ſei, da dieſen ihr
zu verſchaffen anderen Menſchen obliege. Bei einer anderen
Gelegenheit gab ſie Folgendes an: einſt habe ſie in ihrem Bette
gelegen, da ſei ihr der Hals ploͤtzlich ſo zugeſchnuͤrt worden, als
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