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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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heit der Sitten oder gar noch schlimmere Fehler verräth. Un¬
streitig ist der längere Aufenthalt in einem Irrenhause ein ri¬
goröses Examen des Charakters, da die Kranken ihren Leidens¬
genossen gegenüber in einer Lage sich befinden, durch welche
die verstecktesten Seiten ihres Herzens ans Licht kommen. Ih¬
rem Naturell ist überdies eine heitere Freundlichkeit eigen, und
sie versichert, daß sie nur zuweilen ganz niedergebeugt gewesen
sei, wo sie dann Trost im Lesen der Bibel und einiger An¬
dachtsbücher zu schöpfen suchte, weil ihr der Besuch der Kir¬
chen selten gestattet wurde. Erst als sie vor einigen Jahren
sich nach Berlin übersiedelte, gestaltete sich ihr äußeres Leben
günstiger, da sie in wechselnden Dienstverhältnissen einer mensch¬
licheren Behandlung sich zu erfreuen hatte. Zuletzt (im Jahre
1845) war sie Magd bei einem hiesigen Posamentier, dessen
naher Verwandter, ein Oberlehrer in einer hiesigen Schule,
bei seinen häufigen Besuchen durch sein freundliches Beneh¬
men einen tiefen Eindruck auf sie machte, ungeachtet er nie
in ein längeres Gespräch mit ihr sich einließ, und noch weni¬
ger ihr eine besondere Aufmerksamkeit bewies. Sie bekennt
selbst, daß sie sich nicht satt an ihn habe sehen können, daß
sie oft unwillkürlich an ihn habe denken müssen, und daß in
ihr der Wunsch aufgestiegen sei, seine Gattin zu werden, wenn
sie sich auch selbst gesagt habe, daß er als Gelehrter weit
über ihren Stand sei.

Kaum ein Vierteljahr hatte die M. Gelegenheit, ihn zu
sehen, als seine Abreise nach Tyrol erfolgte, wo er durch den
Sturz von einem Felsen sein Grab fand. Sie hatte bis da¬
hin ihr Geheimniß sorgfältig in ihre Brust verschlossen, konnte
sich aber des Gedankens nicht erwehren, daß sie als seine
Gattin das höchste Glück genießen würde, befreit von aller
Noth, welche sie bisher im reichlichsten Maaße erfahren zu
haben meinte, daher sie sich stets einredete, sie sei zum Leiden
geboren. In stets erregter Stimmung wurde sie für äußere
Eindrücke ganz besonders empfänglich; daher wurde sie eines
Tages durch das mehrmalige Stillstehen einer Wanduhr hef¬
tig erschreckt, weil sie aus Aberglauben hierin die Ankün¬
digung eines großen Unglücks fand, und namentlich meinte,
ihr Vater sei gestorben. Später, als sie die Nachricht von

heit der Sitten oder gar noch ſchlimmere Fehler verraͤth. Un¬
ſtreitig iſt der laͤngere Aufenthalt in einem Irrenhauſe ein ri¬
goroͤſes Examen des Charakters, da die Kranken ihren Leidens¬
genoſſen gegenuͤber in einer Lage ſich befinden, durch welche
die verſteckteſten Seiten ihres Herzens ans Licht kommen. Ih¬
rem Naturell iſt uͤberdies eine heitere Freundlichkeit eigen, und
ſie verſichert, daß ſie nur zuweilen ganz niedergebeugt geweſen
ſei, wo ſie dann Troſt im Leſen der Bibel und einiger An¬
dachtsbuͤcher zu ſchoͤpfen ſuchte, weil ihr der Beſuch der Kir¬
chen ſelten geſtattet wurde. Erſt als ſie vor einigen Jahren
ſich nach Berlin uͤberſiedelte, geſtaltete ſich ihr aͤußeres Leben
guͤnſtiger, da ſie in wechſelnden Dienſtverhaͤltniſſen einer menſch¬
licheren Behandlung ſich zu erfreuen hatte. Zuletzt (im Jahre
1845) war ſie Magd bei einem hieſigen Poſamentier, deſſen
naher Verwandter, ein Oberlehrer in einer hieſigen Schule,
bei ſeinen haͤufigen Beſuchen durch ſein freundliches Beneh¬
men einen tiefen Eindruck auf ſie machte, ungeachtet er nie
in ein laͤngeres Geſpraͤch mit ihr ſich einließ, und noch weni¬
ger ihr eine beſondere Aufmerkſamkeit bewies. Sie bekennt
ſelbſt, daß ſie ſich nicht ſatt an ihn habe ſehen koͤnnen, daß
ſie oft unwillkuͤrlich an ihn habe denken muͤſſen, und daß in
ihr der Wunſch aufgeſtiegen ſei, ſeine Gattin zu werden, wenn
ſie ſich auch ſelbſt geſagt habe, daß er als Gelehrter weit
uͤber ihren Stand ſei.

Kaum ein Vierteljahr hatte die M. Gelegenheit, ihn zu
ſehen, als ſeine Abreiſe nach Tyrol erfolgte, wo er durch den
Sturz von einem Felſen ſein Grab fand. Sie hatte bis da¬
hin ihr Geheimniß ſorgfaͤltig in ihre Bruſt verſchloſſen, konnte
ſich aber des Gedankens nicht erwehren, daß ſie als ſeine
Gattin das hoͤchſte Gluͤck genießen wuͤrde, befreit von aller
Noth, welche ſie bisher im reichlichſten Maaße erfahren zu
haben meinte, daher ſie ſich ſtets einredete, ſie ſei zum Leiden
geboren. In ſtets erregter Stimmung wurde ſie fuͤr aͤußere
Eindruͤcke ganz beſonders empfaͤnglich; daher wurde ſie eines
Tages durch das mehrmalige Stillſtehen einer Wanduhr hef¬
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[89/0097] heit der Sitten oder gar noch ſchlimmere Fehler verraͤth. Un¬ ſtreitig iſt der laͤngere Aufenthalt in einem Irrenhauſe ein ri¬ goroͤſes Examen des Charakters, da die Kranken ihren Leidens¬ genoſſen gegenuͤber in einer Lage ſich befinden, durch welche die verſteckteſten Seiten ihres Herzens ans Licht kommen. Ih¬ rem Naturell iſt uͤberdies eine heitere Freundlichkeit eigen, und ſie verſichert, daß ſie nur zuweilen ganz niedergebeugt geweſen ſei, wo ſie dann Troſt im Leſen der Bibel und einiger An¬ dachtsbuͤcher zu ſchoͤpfen ſuchte, weil ihr der Beſuch der Kir¬ chen ſelten geſtattet wurde. Erſt als ſie vor einigen Jahren ſich nach Berlin uͤberſiedelte, geſtaltete ſich ihr aͤußeres Leben guͤnſtiger, da ſie in wechſelnden Dienſtverhaͤltniſſen einer menſch¬ licheren Behandlung ſich zu erfreuen hatte. Zuletzt (im Jahre 1845) war ſie Magd bei einem hieſigen Poſamentier, deſſen naher Verwandter, ein Oberlehrer in einer hieſigen Schule, bei ſeinen haͤufigen Beſuchen durch ſein freundliches Beneh¬ men einen tiefen Eindruck auf ſie machte, ungeachtet er nie in ein laͤngeres Geſpraͤch mit ihr ſich einließ, und noch weni¬ ger ihr eine beſondere Aufmerkſamkeit bewies. Sie bekennt ſelbſt, daß ſie ſich nicht ſatt an ihn habe ſehen koͤnnen, daß ſie oft unwillkuͤrlich an ihn habe denken muͤſſen, und daß in ihr der Wunſch aufgeſtiegen ſei, ſeine Gattin zu werden, wenn ſie ſich auch ſelbſt geſagt habe, daß er als Gelehrter weit uͤber ihren Stand ſei. Kaum ein Vierteljahr hatte die M. Gelegenheit, ihn zu ſehen, als ſeine Abreiſe nach Tyrol erfolgte, wo er durch den Sturz von einem Felſen ſein Grab fand. Sie hatte bis da¬ hin ihr Geheimniß ſorgfaͤltig in ihre Bruſt verſchloſſen, konnte ſich aber des Gedankens nicht erwehren, daß ſie als ſeine Gattin das hoͤchſte Gluͤck genießen wuͤrde, befreit von aller Noth, welche ſie bisher im reichlichſten Maaße erfahren zu haben meinte, daher ſie ſich ſtets einredete, ſie ſei zum Leiden geboren. In ſtets erregter Stimmung wurde ſie fuͤr aͤußere Eindruͤcke ganz beſonders empfaͤnglich; daher wurde ſie eines Tages durch das mehrmalige Stillſtehen einer Wanduhr hef¬ tig erſchreckt, weil ſie aus Aberglauben hierin die Ankuͤn¬ digung eines großen Ungluͤcks fand, und namentlich meinte, ihr Vater ſei geſtorben. Spaͤter, als ſie die Nachricht von

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/97>, abgerufen am 22.11.2024.