Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.schon in die Mysterien der neuen Weisheit eingedrungen? Sage mir aber doch, geliebter Anselm, warum hast du hier auf dem Plane die schönste gerade Linie an einer so unförmlichen Ecke abgebrochen? Ich sah auf die Stelle, die der Freund mit dem Finger andeutete, und erblickte wirklich zu meinem Erstaunen das, wovon er sprach. Die gerade Straße, welche einen Hauptplatz mit dem andern verbinden sollte, zog sich an einer Ecke höchst bescheiden um einen unförmlichen Vorsprung, der Strich war sauber um diesen Klumpen gezogen. Ich wunderte mich über die Irregularität, da rief Anselm höchst verdrießlich : Das ist ja mein Haus, das Haus, worin ihr Thoren eben schwadronirt; wißt ihr, wie viel mich's gekostet hat? Für zwanzigtausend Thaler hatte ich's noch nicht, das kann ich euch versichern! Er rollte rasch seinen Plan zusammen und warf ihn ärgerlich in eine Ecke. Ernst stellte sich mitten in die Stube, nahm aus seiner Dose, worauf der Herr Christus abgebildet war, eine ansehnliche Prise und hob in gemessener Rede, zu mir gewendet, an: Siehst du, hier hast du den modernen deutschen Wirthshaus-Liberalismus, den Affen des französischen Tigers, der doch mit seinen Klauen nur festhalten will, was er bereits hat, nämlich die blutbesprengten Stücke des Throns und Altars! Hier hast du unsern Deutschen in einem Zuge, mit einem Worte; da liegt die Bescheerung aus einer Schüssel. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nur gilt, wohlerworbene Rechte schon in die Mysterien der neuen Weisheit eingedrungen? Sage mir aber doch, geliebter Anselm, warum hast du hier auf dem Plane die schönste gerade Linie an einer so unförmlichen Ecke abgebrochen? Ich sah auf die Stelle, die der Freund mit dem Finger andeutete, und erblickte wirklich zu meinem Erstaunen das, wovon er sprach. Die gerade Straße, welche einen Hauptplatz mit dem andern verbinden sollte, zog sich an einer Ecke höchst bescheiden um einen unförmlichen Vorsprung, der Strich war sauber um diesen Klumpen gezogen. Ich wunderte mich über die Irregularität, da rief Anselm höchst verdrießlich : Das ist ja mein Haus, das Haus, worin ihr Thoren eben schwadronirt; wißt ihr, wie viel mich's gekostet hat? Für zwanzigtausend Thaler hatte ich's noch nicht, das kann ich euch versichern! Er rollte rasch seinen Plan zusammen und warf ihn ärgerlich in eine Ecke. Ernst stellte sich mitten in die Stube, nahm aus seiner Dose, worauf der Herr Christus abgebildet war, eine ansehnliche Prise und hob in gemessener Rede, zu mir gewendet, an: Siehst du, hier hast du den modernen deutschen Wirthshaus-Liberalismus, den Affen des französischen Tigers, der doch mit seinen Klauen nur festhalten will, was er bereits hat, nämlich die blutbesprengten Stücke des Throns und Altars! Hier hast du unsern Deutschen in einem Zuge, mit einem Worte; da liegt die Bescheerung aus einer Schüssel. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nur gilt, wohlerworbene Rechte <TEI> <text> <body> <div n="12"> <p><pb facs="#f0060"/> schon in die Mysterien der neuen Weisheit eingedrungen? Sage mir aber doch, geliebter Anselm, warum hast du hier auf dem Plane die schönste gerade Linie an einer so unförmlichen Ecke abgebrochen? Ich sah auf die Stelle, die der Freund mit dem Finger andeutete, und erblickte wirklich zu meinem Erstaunen das, wovon er sprach. Die gerade Straße, welche einen Hauptplatz mit dem andern verbinden sollte, zog sich an einer Ecke höchst bescheiden um einen unförmlichen Vorsprung, der Strich war sauber um diesen Klumpen gezogen. Ich wunderte mich über die Irregularität, da rief Anselm höchst verdrießlich : Das ist ja mein Haus, das Haus, worin ihr Thoren eben schwadronirt; wißt ihr, wie viel mich's gekostet hat? Für zwanzigtausend Thaler hatte ich's noch nicht, das kann ich euch versichern! Er rollte rasch seinen Plan zusammen und warf ihn ärgerlich in eine Ecke.</p><lb/> <p>Ernst stellte sich mitten in die Stube, nahm aus seiner Dose, worauf der Herr Christus abgebildet war, eine ansehnliche Prise und hob in gemessener Rede, zu mir gewendet, an: Siehst du, hier hast du den modernen deutschen Wirthshaus-Liberalismus, den Affen des französischen Tigers, der doch mit seinen Klauen nur festhalten will, was er bereits hat, nämlich die blutbesprengten Stücke des Throns und Altars! Hier hast du unsern Deutschen in einem Zuge, mit einem Worte; da liegt die Bescheerung aus einer Schüssel. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nur gilt, wohlerworbene Rechte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0060]
schon in die Mysterien der neuen Weisheit eingedrungen? Sage mir aber doch, geliebter Anselm, warum hast du hier auf dem Plane die schönste gerade Linie an einer so unförmlichen Ecke abgebrochen? Ich sah auf die Stelle, die der Freund mit dem Finger andeutete, und erblickte wirklich zu meinem Erstaunen das, wovon er sprach. Die gerade Straße, welche einen Hauptplatz mit dem andern verbinden sollte, zog sich an einer Ecke höchst bescheiden um einen unförmlichen Vorsprung, der Strich war sauber um diesen Klumpen gezogen. Ich wunderte mich über die Irregularität, da rief Anselm höchst verdrießlich : Das ist ja mein Haus, das Haus, worin ihr Thoren eben schwadronirt; wißt ihr, wie viel mich's gekostet hat? Für zwanzigtausend Thaler hatte ich's noch nicht, das kann ich euch versichern! Er rollte rasch seinen Plan zusammen und warf ihn ärgerlich in eine Ecke.
Ernst stellte sich mitten in die Stube, nahm aus seiner Dose, worauf der Herr Christus abgebildet war, eine ansehnliche Prise und hob in gemessener Rede, zu mir gewendet, an: Siehst du, hier hast du den modernen deutschen Wirthshaus-Liberalismus, den Affen des französischen Tigers, der doch mit seinen Klauen nur festhalten will, was er bereits hat, nämlich die blutbesprengten Stücke des Throns und Altars! Hier hast du unsern Deutschen in einem Zuge, mit einem Worte; da liegt die Bescheerung aus einer Schüssel. Nichts ist ihnen heilig, wenn es nur gilt, wohlerworbene Rechte
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/60>, abgerufen am 16.02.2025. |