Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Handlungen, nicht Verse; für das Gesindel, für den Pöbel sich zu bemühn, ist das allerschlechteste Metier, und doch hat der Dichter kein andres. Aber lobt mich nur, so heftig ihr wollt, und damit meine Bescheidenheit nicht zu erröthen brauche, will ich mich auf einige Augenblicke entfernen.

Wir waren allein. Endlich! Ersehnter Moment! mir brannte das Herz, aber nicht vor Liebe. Die Gegenwart meines Schwagers, jene Possen, die Ausgelassenheit Sidoniens, die ich gar nicht fassen konnte, wenn ich an ihr früheres Benehmen dachte. Alles hatte mich abgekühlt. So wahr ist es, daß Witz und Scherz die besten Gegenmittel wider lebhafte Empfindungen sind. Ich dachte ernsthaft an meine Frau, ich dachte an die Tugend, Sidonie hatte sich in den Sopha gesetzt, ich machte einen Gang durch das Zimmer, holte tief Athem und hielt darauf eine Rede, die so confus war, wie Reden immer zu gerathen pflegen, wenn sie recht schön werden sollen. Ich sprach von gewissen Verhältnissen, die gewisse andere Verhältnisse fortzusetzen nicht gestatteten, von Pflichten und Rechten, von Ruhe der Seele, die man sich um jeden Preis bewahren müsse, von Entsagung und dergleichen mehr. Ich war während dieser Rede wieder warm geworden, ihre Gestalt im Sopha schwamm so lockend vor mir; o Himmel! der Mensch ist sehr schwach, meine Rede voll Grundsatz und Regel schloß mit der Bitte, mir einen Abschiedskuß zu geben. Sie stand auf, sie kam mir entgegen, ich wollte meine Lippen

Handlungen, nicht Verse; für das Gesindel, für den Pöbel sich zu bemühn, ist das allerschlechteste Metier, und doch hat der Dichter kein andres. Aber lobt mich nur, so heftig ihr wollt, und damit meine Bescheidenheit nicht zu erröthen brauche, will ich mich auf einige Augenblicke entfernen.

Wir waren allein. Endlich! Ersehnter Moment! mir brannte das Herz, aber nicht vor Liebe. Die Gegenwart meines Schwagers, jene Possen, die Ausgelassenheit Sidoniens, die ich gar nicht fassen konnte, wenn ich an ihr früheres Benehmen dachte. Alles hatte mich abgekühlt. So wahr ist es, daß Witz und Scherz die besten Gegenmittel wider lebhafte Empfindungen sind. Ich dachte ernsthaft an meine Frau, ich dachte an die Tugend, Sidonie hatte sich in den Sopha gesetzt, ich machte einen Gang durch das Zimmer, holte tief Athem und hielt darauf eine Rede, die so confus war, wie Reden immer zu gerathen pflegen, wenn sie recht schön werden sollen. Ich sprach von gewissen Verhältnissen, die gewisse andere Verhältnisse fortzusetzen nicht gestatteten, von Pflichten und Rechten, von Ruhe der Seele, die man sich um jeden Preis bewahren müsse, von Entsagung und dergleichen mehr. Ich war während dieser Rede wieder warm geworden, ihre Gestalt im Sopha schwamm so lockend vor mir; o Himmel! der Mensch ist sehr schwach, meine Rede voll Grundsatz und Regel schloß mit der Bitte, mir einen Abschiedskuß zu geben. Sie stand auf, sie kam mir entgegen, ich wollte meine Lippen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="15">
        <p><pb facs="#f0085"/>
Handlungen, nicht Verse; für das Gesindel, für den Pöbel sich zu bemühn, ist das      allerschlechteste Metier, und doch hat der Dichter kein andres. Aber lobt mich nur, so heftig      ihr wollt, und damit meine Bescheidenheit nicht zu erröthen brauche, will ich mich auf einige      Augenblicke entfernen.</p><lb/>
        <p>Wir waren allein. Endlich! Ersehnter Moment! mir brannte das Herz, aber nicht vor Liebe. Die      Gegenwart meines Schwagers, jene Possen, die Ausgelassenheit Sidoniens, die ich gar nicht      fassen konnte, wenn ich an ihr früheres Benehmen dachte. Alles hatte mich abgekühlt. So wahr      ist es, daß Witz und Scherz die besten Gegenmittel wider lebhafte Empfindungen sind. Ich dachte      ernsthaft an meine Frau, ich dachte an die Tugend, Sidonie hatte sich in den Sopha gesetzt, ich      machte einen Gang durch das Zimmer, holte tief Athem und hielt darauf eine Rede, die so confus      war, wie Reden immer zu gerathen pflegen, wenn sie recht schön werden sollen. Ich sprach von      gewissen Verhältnissen, die gewisse andere Verhältnisse fortzusetzen nicht gestatteten, von      Pflichten und Rechten, von Ruhe der Seele, die man sich um jeden Preis bewahren müsse, von      Entsagung und dergleichen mehr. Ich war während dieser Rede wieder warm geworden, ihre Gestalt      im Sopha schwamm so lockend vor mir; o Himmel! der Mensch ist sehr schwach, meine Rede voll      Grundsatz und Regel schloß mit der Bitte, mir einen Abschiedskuß zu geben. Sie stand auf, sie      kam mir entgegen, ich wollte meine Lippen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0085] Handlungen, nicht Verse; für das Gesindel, für den Pöbel sich zu bemühn, ist das allerschlechteste Metier, und doch hat der Dichter kein andres. Aber lobt mich nur, so heftig ihr wollt, und damit meine Bescheidenheit nicht zu erröthen brauche, will ich mich auf einige Augenblicke entfernen. Wir waren allein. Endlich! Ersehnter Moment! mir brannte das Herz, aber nicht vor Liebe. Die Gegenwart meines Schwagers, jene Possen, die Ausgelassenheit Sidoniens, die ich gar nicht fassen konnte, wenn ich an ihr früheres Benehmen dachte. Alles hatte mich abgekühlt. So wahr ist es, daß Witz und Scherz die besten Gegenmittel wider lebhafte Empfindungen sind. Ich dachte ernsthaft an meine Frau, ich dachte an die Tugend, Sidonie hatte sich in den Sopha gesetzt, ich machte einen Gang durch das Zimmer, holte tief Athem und hielt darauf eine Rede, die so confus war, wie Reden immer zu gerathen pflegen, wenn sie recht schön werden sollen. Ich sprach von gewissen Verhältnissen, die gewisse andere Verhältnisse fortzusetzen nicht gestatteten, von Pflichten und Rechten, von Ruhe der Seele, die man sich um jeden Preis bewahren müsse, von Entsagung und dergleichen mehr. Ich war während dieser Rede wieder warm geworden, ihre Gestalt im Sopha schwamm so lockend vor mir; o Himmel! der Mensch ist sehr schwach, meine Rede voll Grundsatz und Regel schloß mit der Bitte, mir einen Abschiedskuß zu geben. Sie stand auf, sie kam mir entgegen, ich wollte meine Lippen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/85
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/85>, abgerufen am 21.11.2024.