Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

gern wollte sie nimmer zurückkehren. Denn als
sie, von Leiden, wie von zuckenden Blitzen durch-
wühlt, während der Nacht auch einen Blick auf
ihre Vergangenheit warf, so sah sie schaudernd und
wie von einem strengen Seher erbarmungslos un-
terrichtet, in welchen jämmerlichen und lachens-
dürren Umgebungen sie gelebt hatte. Sie blickte
in die traurigen und unreinlichen Trümmer hinein,
zwischen denen sie so muthfroh und rein geblieben
war, und sie hätte weinen mögen, wenn ihr noch
eine Thräne übrig gewesen wäre, als sie nun er-
kannte, daß ein faselnder alter Mann und eine
halbverwirrte Thörin denn doch die Einzigen ge-
wesen waren, die sich ihrer angenommen hatten.
In einen Augenblick des äußersten Entsetzens drängte
sich eine Ewigkeit von quälenden und widerwärtigen
Vorstellungen zusammen -- zerrissen und gepeinigt
wandte sie den Blick von diesen unheimlichen Gesich-
ten ab und in die Zukunft, worin freilich die Augen
Oswald's erloschen waren und nur noch das Auge
Gottes durch die Finsternisse strahlte. -- So hatte
das Unglück die süße Bewußtlosigkeit, worin das
Kind Jungfrau geworden war, zerstört, und das Wa-
chen der Wahrheit in der wunden Brust geschaffen.


gern wollte ſie nimmer zurückkehren. Denn als
ſie, von Leiden, wie von zuckenden Blitzen durch-
wühlt, während der Nacht auch einen Blick auf
ihre Vergangenheit warf, ſo ſah ſie ſchaudernd und
wie von einem ſtrengen Seher erbarmungslos un-
terrichtet, in welchen jämmerlichen und lachens-
dürren Umgebungen ſie gelebt hatte. Sie blickte
in die traurigen und unreinlichen Trümmer hinein,
zwiſchen denen ſie ſo muthfroh und rein geblieben
war, und ſie hätte weinen mögen, wenn ihr noch
eine Thräne übrig geweſen wäre, als ſie nun er-
kannte, daß ein faſelnder alter Mann und eine
halbverwirrte Thörin denn doch die Einzigen ge-
weſen waren, die ſich ihrer angenommen hatten.
In einen Augenblick des äußerſten Entſetzens drängte
ſich eine Ewigkeit von quälenden und widerwärtigen
Vorſtellungen zuſammen — zerriſſen und gepeinigt
wandte ſie den Blick von dieſen unheimlichen Geſich-
ten ab und in die Zukunft, worin freilich die Augen
Oswald’s erloſchen waren und nur noch das Auge
Gottes durch die Finſterniſſe ſtrahlte. — So hatte
das Unglück die ſüße Bewußtloſigkeit, worin das
Kind Jungfrau geworden war, zerſtört, und das Wa-
chen der Wahrheit in der wunden Bruſt geſchaffen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="72"/>
gern wollte &#x017F;ie nimmer zurückkehren. Denn als<lb/>
&#x017F;ie, von Leiden, wie von zuckenden Blitzen durch-<lb/>
wühlt, während der Nacht auch einen Blick auf<lb/>
ihre Vergangenheit warf, &#x017F;o &#x017F;ah &#x017F;ie &#x017F;chaudernd und<lb/>
wie von einem &#x017F;trengen Seher erbarmungslos un-<lb/>
terrichtet, in welchen jämmerlichen und lachens-<lb/>
dürren Umgebungen &#x017F;ie gelebt hatte. Sie blickte<lb/>
in die traurigen und unreinlichen Trümmer hinein,<lb/>
zwi&#x017F;chen denen &#x017F;ie &#x017F;o muthfroh und rein geblieben<lb/>
war, und &#x017F;ie hätte weinen mögen, wenn ihr noch<lb/>
eine Thräne übrig gewe&#x017F;en wäre, als &#x017F;ie nun er-<lb/>
kannte, daß ein fa&#x017F;elnder alter Mann und eine<lb/>
halbverwirrte Thörin denn doch die Einzigen ge-<lb/>
we&#x017F;en waren, die &#x017F;ich ihrer angenommen hatten.<lb/>
In einen Augenblick des äußer&#x017F;ten Ent&#x017F;etzens drängte<lb/>
&#x017F;ich eine Ewigkeit von quälenden und widerwärtigen<lb/>
Vor&#x017F;tellungen zu&#x017F;ammen &#x2014; zerri&#x017F;&#x017F;en und gepeinigt<lb/>
wandte &#x017F;ie den Blick von die&#x017F;en unheimlichen Ge&#x017F;ich-<lb/>
ten ab und in die Zukunft, worin freilich die Augen<lb/>
Oswald&#x2019;s erlo&#x017F;chen waren und nur noch das Auge<lb/>
Gottes durch die Fin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;trahlte. &#x2014; So hatte<lb/>
das Unglück die &#x017F;üße Bewußtlo&#x017F;igkeit, worin das<lb/>
Kind Jungfrau geworden war, zer&#x017F;tört, und das Wa-<lb/>
chen der Wahrheit in der wunden Bru&#x017F;t ge&#x017F;chaffen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0084] gern wollte ſie nimmer zurückkehren. Denn als ſie, von Leiden, wie von zuckenden Blitzen durch- wühlt, während der Nacht auch einen Blick auf ihre Vergangenheit warf, ſo ſah ſie ſchaudernd und wie von einem ſtrengen Seher erbarmungslos un- terrichtet, in welchen jämmerlichen und lachens- dürren Umgebungen ſie gelebt hatte. Sie blickte in die traurigen und unreinlichen Trümmer hinein, zwiſchen denen ſie ſo muthfroh und rein geblieben war, und ſie hätte weinen mögen, wenn ihr noch eine Thräne übrig geweſen wäre, als ſie nun er- kannte, daß ein faſelnder alter Mann und eine halbverwirrte Thörin denn doch die Einzigen ge- weſen waren, die ſich ihrer angenommen hatten. In einen Augenblick des äußerſten Entſetzens drängte ſich eine Ewigkeit von quälenden und widerwärtigen Vorſtellungen zuſammen — zerriſſen und gepeinigt wandte ſie den Blick von dieſen unheimlichen Geſich- ten ab und in die Zukunft, worin freilich die Augen Oswald’s erloſchen waren und nur noch das Auge Gottes durch die Finſterniſſe ſtrahlte. — So hatte das Unglück die ſüße Bewußtloſigkeit, worin das Kind Jungfrau geworden war, zerſtört, und das Wa- chen der Wahrheit in der wunden Bruſt geſchaffen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/84
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/84>, abgerufen am 21.11.2024.