Der alte Unhold war mir lange nicht vor Augen gekommen; ich erschrack vor seiner Gestalt, die seitdem noch um vieles widriger geworden ist. Denkt nur, der Mensch mach- te mir Vorwürfe, und zuletzt, nach einigem hin und wieder reden, fieng er gar an zu weinen. Ach! daß Augen wie die seinigen -- daß alle Augen Thränen haben! Einem Gierigstein, wenn er weinen wollte, müß- te, statt der Thränen, etwas aus den Augen kommen, was man wie Staubflocken von sich abschütteln könnte; denn Thränen rüh- ren einen doch immer, betriegen einen. An diesem Gierigstein ist es mir zum Schre- cken aufgefallen, was für eine Gestalt zum Vorschein kommt, wenn einem verkehrten Menschen das Alter die Maske wegdorret, Fleisch und Farbe seine Züge nicht mehr ver- hüllen. Da zeigt sich die abgehärtete Nerve. Erstarrt im Häßlichen liegt sie da zur gräß- lichen Schau: da bebt der nackende Mund, der kalte, unholde; da zittert das trübe Au- ge, dessen Blick, nicht mehr lenksam, harren
muß
Der alte Unhold war mir lange nicht vor Augen gekommen; ich erſchrack vor ſeiner Geſtalt, die ſeitdem noch um vieles widriger geworden iſt. Denkt nur, der Menſch mach- te mir Vorwuͤrfe, und zuletzt, nach einigem hin und wieder reden, fieng er gar an zu weinen. Ach! daß Augen wie die ſeinigen — daß alle Augen Thraͤnen haben! Einem Gierigſtein, wenn er weinen wollte, muͤß- te, ſtatt der Thraͤnen, etwas aus den Augen kommen, was man wie Staubflocken von ſich abſchuͤtteln koͤnnte; denn Thraͤnen ruͤh- ren einen doch immer, betriegen einen. An dieſem Gierigſtein iſt es mir zum Schre- cken aufgefallen, was fuͤr eine Geſtalt zum Vorſchein kommt, wenn einem verkehrten Menſchen das Alter die Maske wegdorret, Fleiſch und Farbe ſeine Zuͤge nicht mehr ver- huͤllen. Da zeigt ſich die abgehaͤrtete Nerve. Erſtarrt im Haͤßlichen liegt ſie da zur graͤß- lichen Schau: da bebt der nackende Mund, der kalte, unholde; da zittert das truͤbe Au- ge, deſſen Blick, nicht mehr lenkſam, harren
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Der alte Unhold war mir lange nicht vor
Augen gekommen; ich erſchrack vor ſeiner
Geſtalt, die ſeitdem noch um vieles widriger
geworden iſt. Denkt nur, der Menſch mach-
te mir Vorwuͤrfe, und zuletzt, nach einigem
hin und wieder reden, fieng er gar an zu
weinen. Ach! daß Augen wie die ſeinigen —
daß alle Augen Thraͤnen haben! Einem
Gierigſtein, wenn er weinen wollte, muͤß-
te, ſtatt der Thraͤnen, etwas aus den Augen
kommen, was man wie Staubflocken von
ſich abſchuͤtteln koͤnnte; denn Thraͤnen ruͤh-
ren einen doch immer, betriegen einen. An
dieſem Gierigſtein iſt es mir zum Schre-
cken aufgefallen, was fuͤr eine Geſtalt zum
Vorſchein kommt, wenn einem verkehrten
Menſchen das Alter die Maske wegdorret,
Fleiſch und Farbe ſeine Zuͤge nicht mehr ver-
huͤllen. Da zeigt ſich die abgehaͤrtete Nerve.
Erſtarrt im Haͤßlichen liegt ſie da zur graͤß-
lichen Schau: da bebt der nackende Mund,
der kalte, unholde; da zittert das truͤbe Au-
ge, deſſen Blick, nicht mehr lenkſam, harren
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/150>, abgerufen am 24.11.2024.
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