Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele Flügel! Und wie konnte sie mit ihren Flügeln an den häßlichen Leim gerathen, der ihr das Gefieder so zusammen klebte, daß an kein Los- werden in dieser Zeit zu denken ist? Dein guter Plato spricht zwar von einem Schrinnen und Jucken an der Stelle der Flügel, welches ein Zeichen des Losklebens seyn soll, und daß sie nun bald sich hervorthun werden. Aber ich glaube fast, der gute Mann hat uns das nur zum Zeitvertreibe erzählt; denn, wenn es wahr wäre, wie lange hätten wir beyde, Du und ich, nicht schon andre als diese ärgerlichen Gänsefedern, womit wir so leidig zu einander kommen.
Oft, liebe Sylli, wenn ich mich im An- denken an Dich vertiefe, wandelt mich etwas an, wie ein Naheseyn von Dir. Es fährt mir ein Schauer über das Gesicht, und noch einer, und mir wird, als könnte ich Dir ge- bieten, zu erscheinen.
Wenigstens so wird es einmal seyn, sage
Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele Fluͤgel! Und wie konnte ſie mit ihren Fluͤgeln an den haͤßlichen Leim gerathen, der ihr das Gefieder ſo zuſammen klebte, daß an kein Los- werden in dieſer Zeit zu denken iſt? Dein guter Plato ſpricht zwar von einem Schrinnen und Jucken an der Stelle der Fluͤgel, welches ein Zeichen des Losklebens ſeyn ſoll, und daß ſie nun bald ſich hervorthun werden. Aber ich glaube faſt, der gute Mann hat uns das nur zum Zeitvertreibe erzaͤhlt; denn, wenn es wahr waͤre, wie lange haͤtten wir beyde, Du und ich, nicht ſchon andre als dieſe aͤrgerlichen Gaͤnſefedern, womit wir ſo leidig zu einander kommen.
Oft, liebe Sylli, wenn ich mich im An- denken an Dich vertiefe, wandelt mich etwas an, wie ein Naheſeyn von Dir. Es faͤhrt mir ein Schauer uͤber das Geſicht, und noch einer, und mir wird, als koͤnnte ich Dir ge- bieten, zu erſcheinen.
Wenigſtens ſo wird es einmal ſeyn, ſage
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Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele
Fluͤgel! Und wie konnte ſie mit ihren Fluͤgeln
an den haͤßlichen Leim gerathen, der ihr das
Gefieder ſo zuſammen klebte, daß an kein Los-
werden in dieſer Zeit zu denken iſt? Dein
guter Plato ſpricht zwar von einem Schrinnen
und Jucken an der Stelle der Fluͤgel, welches
ein Zeichen des Losklebens ſeyn ſoll, und daß
ſie nun bald ſich hervorthun werden. Aber
ich glaube faſt, der gute Mann hat uns das
nur zum Zeitvertreibe erzaͤhlt; denn, wenn es
wahr waͤre, wie lange haͤtten wir beyde, Du
und ich, nicht ſchon andre als dieſe aͤrgerlichen
Gaͤnſefedern, womit wir ſo leidig zu einander
kommen.
Oft, liebe Sylli, wenn ich mich im An-
denken an Dich vertiefe, wandelt mich etwas
an, wie ein Naheſeyn von Dir. Es faͤhrt
mir ein Schauer uͤber das Geſicht, und noch
einer, und mir wird, als koͤnnte ich Dir ge-
bieten, zu erſcheinen.
Wenigſtens ſo wird es einmal ſeyn, ſage
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/176>, abgerufen am 21.11.2024.
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