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Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745.

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niß über mich beschlossen, und mein Kind
in dieses Leben nicht wieder zurück wünsch-
te, sondern in dieses Schicksal als eine wei-
se und gütige Fügung meines GOttes wil-
ligte. Der innere Schmertz aber legte
sich dadurch eben so wenig, als ich bey Oeff-
nung einer Ader durch den Gedancken fühl-
los werde: Es sey mir heilsam. Zeit und
andere Empfindungen waren allein im
Stande, diesen Schmertz zu verdunckeln.

Jch bin bey dieser Gelegenheit mehr wie
jemahls auf die Untersuchung verfallen,
woher doch die Liebe der Eltern gegen die
Kinder eine so gar grosse Krafft bekom-
men? Jch habe sonst geglaubt, sie werde
uns bloß durch den Umgang mit den Kin-
dern nach und nach eingeflösset, indem die
beständige Betrachtung ihrer Vollkom-
menheiten eine Liebe bey uns zeugte und
ernehrte. Jch bin aber nun durch die Er-
fahrung überzeuget, daß selbiger allein kei-
ne so hefftige Neigung gegen jemand er-
wecken könne. Mein Kind war erst zwey
Jahr alt, und könnte ich die Stunden zeh-
len, die es um mich gewesen, sie würden
wenig Wochen ausmachen. Hätte ich
ein fremdes Kind so lang um mich gehabt,

würde
R 2



niß uͤber mich beſchloſſen, und mein Kind
in dieſes Leben nicht wieder zuruͤck wuͤnſch-
te, ſondern in dieſes Schickſal als eine wei-
ſe und guͤtige Fuͤgung meines GOttes wil-
ligte. Der innere Schmertz aber legte
ſich dadurch eben ſo wenig, als ich bey Oeff-
nung einer Ader durch den Gedancken fuͤhl-
los werde: Es ſey mir heilſam. Zeit und
andere Empfindungen waren allein im
Stande, dieſen Schmertz zu verdunckeln.

Jch bin bey dieſer Gelegenheit mehr wie
jemahls auf die Unterſuchung verfallen,
woher doch die Liebe der Eltern gegen die
Kinder eine ſo gar groſſe Krafft bekom-
men? Jch habe ſonſt geglaubt, ſie werde
uns bloß durch den Umgang mit den Kin-
dern nach und nach eingefloͤſſet, indem die
beſtaͤndige Betrachtung ihrer Vollkom-
menheiten eine Liebe bey uns zeugte und
ernehrte. Jch bin aber nun durch die Er-
fahrung uͤberzeuget, daß ſelbiger allein kei-
ne ſo hefftige Neigung gegen jemand er-
wecken koͤnne. Mein Kind war erſt zwey
Jahr alt, und koͤnnte ich die Stunden zeh-
len, die es um mich geweſen, ſie wuͤrden
wenig Wochen ausmachen. Haͤtte ich
ein fremdes Kind ſo lang um mich gehabt,

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[259/0277] niß uͤber mich beſchloſſen, und mein Kind in dieſes Leben nicht wieder zuruͤck wuͤnſch- te, ſondern in dieſes Schickſal als eine wei- ſe und guͤtige Fuͤgung meines GOttes wil- ligte. Der innere Schmertz aber legte ſich dadurch eben ſo wenig, als ich bey Oeff- nung einer Ader durch den Gedancken fuͤhl- los werde: Es ſey mir heilſam. Zeit und andere Empfindungen waren allein im Stande, dieſen Schmertz zu verdunckeln. Jch bin bey dieſer Gelegenheit mehr wie jemahls auf die Unterſuchung verfallen, woher doch die Liebe der Eltern gegen die Kinder eine ſo gar groſſe Krafft bekom- men? Jch habe ſonſt geglaubt, ſie werde uns bloß durch den Umgang mit den Kin- dern nach und nach eingefloͤſſet, indem die beſtaͤndige Betrachtung ihrer Vollkom- menheiten eine Liebe bey uns zeugte und ernehrte. Jch bin aber nun durch die Er- fahrung uͤberzeuget, daß ſelbiger allein kei- ne ſo hefftige Neigung gegen jemand er- wecken koͤnne. Mein Kind war erſt zwey Jahr alt, und koͤnnte ich die Stunden zeh- len, die es um mich geweſen, ſie wuͤrden wenig Wochen ausmachen. Haͤtte ich ein fremdes Kind ſo lang um mich gehabt, wuͤrde R 2

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Zitationshilfe: Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen02_1745/277>, abgerufen am 24.11.2024.