Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

dann bei Gelegenheit so zu sterben. Der große
Haufen ist damit vollkommen zufrieden, und aus
seinen Büchern lernt er es nicht anders. Aber
so wenig der für einen Arzt gelten kann, der
wohl weiß daß der Kranke leidet; allenfalls
auch noch versteht, was ihm fehlt; sich aufs
Höchste vor Ansteckung in Acht nimmt; übrigens
bei Leibe nicht sich mit Heilungsversuchen ab¬
giebt: So bleibt auch der ein armseliger Halb¬
menschenkenner, der nur von Schwächen, Feh¬
lern, Mängeln, Jrrthümern, Vorurtheilen, Lei¬
denschaften, Gebrechen und Lastern Bescheid weiß.
Zu einem guten Unterhaltungsbuch gehört mehr,
als diese einseitige Abschilderung der schlimmsten
Seite. Biedere und Brave bezwecken Menschen-
und menschlicher Anstalten Vollkommnung,
und es giebt Raum für die Tugend in jedem
Würkungskreise. Man muß sie öffentlich von
jedermann fordern, nur im Stillen nicht von
jedem erwarten. Allmutter Natur verwünscht
kein Kind mit dem Bann, jedes kann edel wol¬
len; sie ächtet keinen wahren Sohn, jeder kann
brav sein. Und so beschränkt ist keine Zeit, und
so eingeengt kein Raum, daß nicht ein Thaten¬

dann bei Gelegenheit ſo zu ſterben. Der große
Haufen iſt damit vollkommen zufrieden, und aus
ſeinen Büchern lernt er es nicht anders. Aber
ſo wenig der für einen Arzt gelten kann, der
wohl weiß daß der Kranke leidet; allenfalls
auch noch verſteht, was ihm fehlt; ſich aufs
Höchſte vor Anſteckung in Acht nimmt; übrigens
bei Leibe nicht ſich mit Heilungsverſuchen ab¬
giebt: So bleibt auch der ein armſeliger Halb¬
menſchenkenner, der nur von Schwächen, Feh¬
lern, Mängeln, Jrrthümern, Vorurtheilen, Lei¬
denſchaften, Gebrechen und Laſtern Beſcheid weiß.
Zu einem guten Unterhaltungsbuch gehört mehr,
als dieſe einſeitige Abſchilderung der ſchlimmſten
Seite. Biedere und Brave bezwecken Menſchen-
und menſchlicher Anſtalten Vollkommnung,
und es giebt Raum für die Tugend in jedem
Würkungskreiſe. Man muß ſie öffentlich von
jedermann fordern, nur im Stillen nicht von
jedem erwarten. Allmutter Natur verwünſcht
kein Kind mit dem Bann, jedes kann edel wol¬
len; ſie ächtet keinen wahren Sohn, jeder kann
brav ſein. Und ſo beſchränkt iſt keine Zeit, und
ſo eingeengt kein Raum, daß nicht ein Thaten¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0237" n="207"/><fw type="pageNum" place="top">207<lb/></fw>dann bei Gelegenheit &#x017F;o zu &#x017F;terben. Der große<lb/>
Haufen i&#x017F;t damit vollkommen zufrieden, und aus<lb/>
&#x017F;einen Büchern lernt er es nicht anders. Aber<lb/>
&#x017F;o wenig der für einen Arzt gelten kann, der<lb/>
wohl weiß daß der Kranke leidet; allenfalls<lb/>
auch noch ver&#x017F;teht, was ihm fehlt; &#x017F;ich aufs<lb/>
Höch&#x017F;te vor An&#x017F;teckung in Acht nimmt; übrigens<lb/>
bei Leibe nicht &#x017F;ich mit Heilungsver&#x017F;uchen ab¬<lb/>
giebt: So bleibt auch der ein arm&#x017F;eliger Halb¬<lb/>
men&#x017F;chenkenner, der nur von Schwächen, Feh¬<lb/>
lern, Mängeln, Jrrthümern, Vorurtheilen, Lei¬<lb/>
den&#x017F;chaften, Gebrechen und La&#x017F;tern Be&#x017F;cheid weiß.<lb/>
Zu einem guten Unterhaltungsbuch gehört mehr,<lb/>
als die&#x017F;e ein&#x017F;eitige Ab&#x017F;childerung der &#x017F;chlimm&#x017F;ten<lb/>
Seite. Biedere und Brave bezwecken Men&#x017F;chen-<lb/>
und men&#x017F;chlicher An&#x017F;talten Vollkommnung,<lb/>
und es giebt Raum für die Tugend in jedem<lb/>
Würkungskrei&#x017F;e. Man muß &#x017F;ie öffentlich von<lb/>
jedermann fordern, nur im Stillen nicht von<lb/>
jedem erwarten. Allmutter Natur verwün&#x017F;cht<lb/>
kein Kind mit dem Bann, jedes kann edel wol¬<lb/>
len; &#x017F;ie ächtet keinen wahren Sohn, jeder kann<lb/>
brav &#x017F;ein. Und &#x017F;o be&#x017F;chränkt i&#x017F;t keine Zeit, und<lb/>
&#x017F;o eingeengt kein Raum, daß nicht ein Thaten¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0237] 207 dann bei Gelegenheit ſo zu ſterben. Der große Haufen iſt damit vollkommen zufrieden, und aus ſeinen Büchern lernt er es nicht anders. Aber ſo wenig der für einen Arzt gelten kann, der wohl weiß daß der Kranke leidet; allenfalls auch noch verſteht, was ihm fehlt; ſich aufs Höchſte vor Anſteckung in Acht nimmt; übrigens bei Leibe nicht ſich mit Heilungsverſuchen ab¬ giebt: So bleibt auch der ein armſeliger Halb¬ menſchenkenner, der nur von Schwächen, Feh¬ lern, Mängeln, Jrrthümern, Vorurtheilen, Lei¬ denſchaften, Gebrechen und Laſtern Beſcheid weiß. Zu einem guten Unterhaltungsbuch gehört mehr, als dieſe einſeitige Abſchilderung der ſchlimmſten Seite. Biedere und Brave bezwecken Menſchen- und menſchlicher Anſtalten Vollkommnung, und es giebt Raum für die Tugend in jedem Würkungskreiſe. Man muß ſie öffentlich von jedermann fordern, nur im Stillen nicht von jedem erwarten. Allmutter Natur verwünſcht kein Kind mit dem Bann, jedes kann edel wol¬ len; ſie ächtet keinen wahren Sohn, jeder kann brav ſein. Und ſo beſchränkt iſt keine Zeit, und ſo eingeengt kein Raum, daß nicht ein Thaten¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/237
Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/237>, abgerufen am 13.05.2024.