Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

Bild:
<< vorherige Seite

diese Gleichzeitigkeit zu läugnen braucht: denn woher stände sie zu er-
weisen, da keine Seele etwas von der andern etc. weis? ... Leibniz, Lessing
meisselten aus den feindseligsten Systemen ihre überdekten Aehnlich-
keiten mit einander heraus -- Bayle, Voltaire und die Kezer fabri-
zierenden Theologen holten aus Systemen die Verschiedenheiten und5
Irthümer hervor -- .. Der Stoizismus -- Monachismus -- Mysti-
zismus und Fohismus sind Milchbrüder. Der Stoizismus fodert nicht
blos Apathie sondern schränkt die Tugend auf thatenleere Verfassung
ein (denn wie solte der Stoiker einem angenehme Empfindungen zu-
zuführen bemüht oder verpflichtet sein, da diese nicht viel besser als die10
entgegengesezten sind)*). -- Der Monachismus untersagt ieden eignen
Willen etc. -- Der Mystizismus (Brüder des freien Geists im 13 Jahr-
hundert) verwandelt alle Neigungen etc. der Seele in den einzigen
Gedanken an Got und begehrt einen frommen Grund mit Gleichgültig-
keit für die darauf gemalten guten oder schlimmen Handlungen. --15
Der Fohismus in Sina, aus dem das warme schlafsüchtige Klima noch
ein Paar Sprossen mehr vortrieb, sagt, daß man Geistes Anstrengung
und Sinnen Abtödtung solange fortsezen müste, bis Wille und Gedanke
und Empfindung verschwände etc. Der Christ und der Tugenhafte sind[313]
in einem gewissen Grade Stoiker, folglich würde in ienem Buch, dessen20
Schreibung und Unterschreibung Ihnen so schwierig vorkömt, ieder
seine Meinung finden. -- Überhaupt ist ein Mensch von einem Men-
schen**) wenig verschieden und ich habe Hochachtung für ieden Unsin,
weil er von und in einem Menschen ist und weil ieder Unsin bei näherer
Umleuchtung Gründe verräth, die seine Annahme entschuldigen.25
Vollends über Gewohnheiten ganzer Völker und Zeiten solte man nie
den Stab richtend brechen, da es keine ganz sinlose gab (das nüzlichste
Buch wäre eines, das die Vernunftmässigkeit alles menschlichen Unsins
darstelte). -- Ich flattere glüklich in einem Blumenflor von Genüssen
herum, die meinem Saugerüssel untermengt anbieten Satiriker etc.,30
Koketten und alle Teufel. Hätt' ich Zeit und Kopf genug: so lernt' ich
alle Wissenschaften und Sprachen, weil iede eine neue Seite der
menschlichen Natur und einen neuen Genus verspricht. Jede mensch-

*) Grade so ists mit dem Glauben und [den] guten Werken der Orthodoxen.
**) In höhern Augen werden vielleicht unsre Unähnlichkeiten untereinander so
zusammenfallen als in den unsrigen die Einer Thiergattung.

dieſe Gleichzeitigkeit zu läugnen braucht: denn woher ſtände ſie zu er-
weiſen, da keine Seele etwas von der andern ꝛc. weis? … Leibniz, Leſſing
meiſſelten aus den feindſeligſten Syſtemen ihre überdekten Aehnlich-
keiten mit einander heraus — Bayle, Voltaire und die Kezer fabri-
zierenden Theologen holten aus Syſtemen die Verſchiedenheiten und5
Irthümer hervor — .. Der Stoiziſmus — Monachiſmus — Myſti-
ziſmus und Fohiſmus ſind Milchbrüder. Der Stoiziſmus fodert nicht
blos Apathie ſondern ſchränkt die Tugend auf thatenleere Verfaſſung
ein (denn wie ſolte der Stoiker einem angenehme Empfindungen zu-
zuführen bemüht oder verpflichtet ſein, da dieſe nicht viel beſſer als die10
entgegengeſezten ſind)*). — Der Monachiſmus unterſagt ieden eignen
Willen ꝛc. — Der Myſtiziſmus (Brüder des freien Geiſts im 13 Jahr-
hundert) verwandelt alle Neigungen ꝛc. der Seele in den einzigen
Gedanken an Got und begehrt einen frommen Grund mit Gleichgültig-
keit für die darauf gemalten guten oder ſchlimmen Handlungen. —15
Der Fohiſmus in Sina, aus dem das warme ſchlafſüchtige Klima noch
ein Paar Sproſſen mehr vortrieb, ſagt, daß man Geiſtes Anſtrengung
und Sinnen Abtödtung ſolange fortſezen müſte, bis Wille und Gedanke
und Empfindung verſchwände ꝛc. Der Chriſt und der Tugenhafte ſind[313]
in einem gewiſſen Grade Stoiker, folglich würde in ienem Buch, deſſen20
Schreibung und Unterſchreibung Ihnen ſo ſchwierig vorkömt, ieder
ſeine Meinung finden. — Überhaupt iſt ein Menſch von einem Men-
ſchen**) wenig verſchieden und ich habe Hochachtung für ieden Unſin,
weil er von und in einem Menſchen iſt und weil ieder Unſin bei näherer
Umleuchtung Gründe verräth, die ſeine Annahme entſchuldigen.25
Vollends über Gewohnheiten ganzer Völker und Zeiten ſolte man nie
den Stab richtend brechen, da es keine ganz ſinloſe gab (das nüzlichſte
Buch wäre eines, das die Vernunftmäſſigkeit alles menſchlichen Unſins
darſtelte). — Ich flattere glüklich in einem Blumenflor von Genüſſen
herum, die meinem Saugerüſſel untermengt anbieten Satiriker ꝛc.,30
Koketten und alle Teufel. Hätt’ ich Zeit und Kopf genug: ſo lernt’ ich
alle Wiſſenſchaften und Sprachen, weil iede eine neue Seite der
menſchlichen Natur und einen neuen Genus verſpricht. Jede menſch-

*) Grade ſo iſts mit dem Glauben und [den] guten Werken der Orthodoxen.
**) In höhern Augen werden vielleicht unſre Unähnlichkeiten untereinander ſo
zuſammenfallen als in den unſrigen die Einer Thiergattung.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0323" n="297"/>
die&#x017F;e Gleichzeitigkeit zu läugnen braucht: denn woher &#x017F;tände &#x017F;ie zu er-<lb/>
wei&#x017F;en, da keine Seele etwas von der andern &#xA75B;c. weis? &#x2026; Leibniz, Le&#x017F;&#x017F;ing<lb/>
mei&#x017F;&#x017F;elten aus den feind&#x017F;elig&#x017F;ten Sy&#x017F;temen ihre überdekten Aehnlich-<lb/>
keiten mit einander heraus &#x2014; Bayle, Voltaire und die Kezer fabri-<lb/>
zierenden Theologen holten aus Sy&#x017F;temen die Ver&#x017F;chiedenheiten und<lb n="5"/>
Irthümer hervor &#x2014; .. Der Stoizi&#x017F;mus &#x2014; Monachi&#x017F;mus &#x2014; My&#x017F;ti-<lb/>
zi&#x017F;mus und Fohi&#x017F;mus &#x017F;ind Milchbrüder. Der Stoizi&#x017F;mus fodert nicht<lb/>
blos Apathie &#x017F;ondern &#x017F;chränkt die Tugend auf thatenleere Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
ein (denn wie &#x017F;olte der Stoiker einem angenehme Empfindungen zu-<lb/>
zuführen bemüht oder verpflichtet &#x017F;ein, da die&#x017F;e nicht viel be&#x017F;&#x017F;er als die<lb n="10"/>
entgegenge&#x017F;ezten &#x017F;ind)<note place="foot" n="*)">Grade &#x017F;o i&#x017F;ts mit dem Glauben und <metamark>[</metamark>den<metamark>]</metamark> guten Werken der Orthodoxen.</note>. &#x2014; Der Monachi&#x017F;mus unter&#x017F;agt ieden eignen<lb/>
Willen &#xA75B;c. &#x2014; Der My&#x017F;tizi&#x017F;mus (Brüder des freien Gei&#x017F;ts im 13 Jahr-<lb/>
hundert) verwandelt alle Neigungen &#xA75B;c. der Seele in den einzigen<lb/>
Gedanken an Got und begehrt einen frommen Grund mit Gleichgültig-<lb/>
keit für die darauf gemalten guten oder &#x017F;chlimmen Handlungen. &#x2014;<lb n="15"/>
Der Fohi&#x017F;mus in Sina, aus dem das warme &#x017F;chlaf&#x017F;üchtige Klima noch<lb/>
ein Paar Spro&#x017F;&#x017F;en mehr vortrieb, &#x017F;agt, daß man Gei&#x017F;tes An&#x017F;trengung<lb/>
und Sinnen Abtödtung &#x017F;olange fort&#x017F;ezen mü&#x017F;te, bis Wille und Gedanke<lb/>
und Empfindung ver&#x017F;chwände &#xA75B;c. Der Chri&#x017F;t und der Tugenhafte &#x017F;ind<note place="right"><ref target="1922_Bd#_313">[313]</ref></note><lb/>
in einem gewi&#x017F;&#x017F;en Grade Stoiker, folglich würde in ienem Buch, de&#x017F;&#x017F;en<lb n="20"/>
Schreibung und Unter&#x017F;chreibung Ihnen &#x017F;o &#x017F;chwierig vorkömt, ieder<lb/>
&#x017F;eine Meinung finden. &#x2014; Überhaupt i&#x017F;t ein Men&#x017F;ch von einem Men-<lb/>
&#x017F;chen<note place="foot" n="**)">In höhern Augen werden vielleicht un&#x017F;re Unähnlichkeiten untereinander &#x017F;o<lb/>
zu&#x017F;ammenfallen als in den un&#x017F;rigen die Einer Thiergattung.</note> wenig ver&#x017F;chieden und ich habe Hochachtung für ieden Un&#x017F;in,<lb/>
weil er von und in einem Men&#x017F;chen i&#x017F;t und weil ieder Un&#x017F;in bei näherer<lb/>
Umleuchtung Gründe verräth, die &#x017F;eine Annahme ent&#x017F;chuldigen.<lb n="25"/>
Vollends über Gewohnheiten ganzer Völker und Zeiten &#x017F;olte man nie<lb/>
den Stab richtend brechen, da es keine ganz &#x017F;inlo&#x017F;e gab (das nüzlich&#x017F;te<lb/>
Buch wäre eines, das die Vernunftmä&#x017F;&#x017F;igkeit alles men&#x017F;chlichen Un&#x017F;ins<lb/>
dar&#x017F;telte). &#x2014; Ich flattere glüklich in einem Blumenflor von Genü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
herum, die meinem Saugerü&#x017F;&#x017F;el untermengt anbieten Satiriker &#xA75B;c.,<lb n="30"/>
Koketten und alle Teufel. Hätt&#x2019; ich Zeit und Kopf genug: &#x017F;o lernt&#x2019; ich<lb/>
alle Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und Sprachen, weil iede eine neue Seite der<lb/>
men&#x017F;chlichen Natur und einen neuen Genus ver&#x017F;pricht. Jede men&#x017F;ch-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0323] dieſe Gleichzeitigkeit zu läugnen braucht: denn woher ſtände ſie zu er- weiſen, da keine Seele etwas von der andern ꝛc. weis? … Leibniz, Leſſing meiſſelten aus den feindſeligſten Syſtemen ihre überdekten Aehnlich- keiten mit einander heraus — Bayle, Voltaire und die Kezer fabri- zierenden Theologen holten aus Syſtemen die Verſchiedenheiten und 5 Irthümer hervor — .. Der Stoiziſmus — Monachiſmus — Myſti- ziſmus und Fohiſmus ſind Milchbrüder. Der Stoiziſmus fodert nicht blos Apathie ſondern ſchränkt die Tugend auf thatenleere Verfaſſung ein (denn wie ſolte der Stoiker einem angenehme Empfindungen zu- zuführen bemüht oder verpflichtet ſein, da dieſe nicht viel beſſer als die 10 entgegengeſezten ſind) *). — Der Monachiſmus unterſagt ieden eignen Willen ꝛc. — Der Myſtiziſmus (Brüder des freien Geiſts im 13 Jahr- hundert) verwandelt alle Neigungen ꝛc. der Seele in den einzigen Gedanken an Got und begehrt einen frommen Grund mit Gleichgültig- keit für die darauf gemalten guten oder ſchlimmen Handlungen. — 15 Der Fohiſmus in Sina, aus dem das warme ſchlafſüchtige Klima noch ein Paar Sproſſen mehr vortrieb, ſagt, daß man Geiſtes Anſtrengung und Sinnen Abtödtung ſolange fortſezen müſte, bis Wille und Gedanke und Empfindung verſchwände ꝛc. Der Chriſt und der Tugenhafte ſind in einem gewiſſen Grade Stoiker, folglich würde in ienem Buch, deſſen 20 Schreibung und Unterſchreibung Ihnen ſo ſchwierig vorkömt, ieder ſeine Meinung finden. — Überhaupt iſt ein Menſch von einem Men- ſchen **) wenig verſchieden und ich habe Hochachtung für ieden Unſin, weil er von und in einem Menſchen iſt und weil ieder Unſin bei näherer Umleuchtung Gründe verräth, die ſeine Annahme entſchuldigen. 25 Vollends über Gewohnheiten ganzer Völker und Zeiten ſolte man nie den Stab richtend brechen, da es keine ganz ſinloſe gab (das nüzlichſte Buch wäre eines, das die Vernunftmäſſigkeit alles menſchlichen Unſins darſtelte). — Ich flattere glüklich in einem Blumenflor von Genüſſen herum, die meinem Saugerüſſel untermengt anbieten Satiriker ꝛc., 30 Koketten und alle Teufel. Hätt’ ich Zeit und Kopf genug: ſo lernt’ ich alle Wiſſenſchaften und Sprachen, weil iede eine neue Seite der menſchlichen Natur und einen neuen Genus verſpricht. Jede menſch- [313] *) Grade ſo iſts mit dem Glauben und [den] guten Werken der Orthodoxen. **) In höhern Augen werden vielleicht unſre Unähnlichkeiten untereinander ſo zuſammenfallen als in den unſrigen die Einer Thiergattung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/323
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/323>, abgerufen am 21.11.2024.