Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

Bild:
<< vorherige Seite
278. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
[Kopie]

Ihre Briefe sind der beste Exorzismus gegen den Teufel der Stum-
heit -- sie sind eine fixe Besoldung für jedes Wort, das man frankiert;
man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechselbrief. Ich muste5
mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag
nichts in der Hand zu haben als stat Ihrer sanften warmen den Kiel. --
Ich ruhe nicht unter sondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich
meinem Geist und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am
zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein10
Nest vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds so forttreiben [bis]
die gequälte fieberhafte Brust von der lezten Erdscholle gekühlt [ist].
Unser Leben ist eine Kette von Mitteln -- dem lezten und neuesten
trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurst --
und unser Geniessen des Lebens ist nur ein sanfteres Vergessen des-[170]15
selben. -- Alle Sachen des Vergnügens müssen wie Einfälle und der
Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlassen bleiben. --
Er [Otto?] ist ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge-
bükter Lehrer sondern gerade wie ein deutsches Komma, unähnlich dem
krummen französischen. Sie umfässet ein unsichtbarer Arm. Es ist20
unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr
Freund zu sein -- ich meine wir lieben Sie alle. -- Wir beide halten
den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, also
giebt es für [uns] weder aktive noch passive gene. Es ist sonderbar, daß
die Franzosen nur das Wort und die Deutschen nur die Sache haben. --25
Fränklin räth an, man sol jede Nacht die Betten wechseln. Warlich
man solte -- Menschen ausgenommen -- alles wechseln (und ab-
danken nichts), zuerst ausser den Hemden Stuben, Spaziergänge,
besonders Städte, ich meine man solte in 2 Städten wohnen und
zwischen ihnen hin und herziehen. Der jüdische lange Tag unsers30
Lebens würde uns durch sein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn
nicht die sanfte Natur zwischen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf
als die Folie des Wachens eingeschoben hätte. Daher kan -- oder die
ganze Menschennatur wird gefelgt und umgestürzt -- die 2te Welt kein
grünes Sumpfwasser einer fixen Ewigkeit sein sondern ein unabseh-35
licher Wechsel, d. h. ein unabsehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O
ich habe oft kindisch zu mir gesagt: ich bin nur froh, daß ich existiere und

278. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
[Kopie]

Ihre Briefe ſind der beſte Exorziſmus gegen den Teufel der Stum-
heit — ſie ſind eine fixe Beſoldung für jedes Wort, das man frankiert;
man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechſelbrief. Ich muſte5
mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag
nichts in der Hand zu haben als ſtat Ihrer ſanften warmen den Kiel. —
Ich ruhe nicht unter ſondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich
meinem Geiſt und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am
zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein10
Neſt vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds ſo forttreiben [bis]
die gequälte fieberhafte Bruſt von der lezten Erdſcholle gekühlt [iſt].
Unſer Leben iſt eine Kette von Mitteln — dem lezten und neueſten
trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurſt —
und unſer Genieſſen des Lebens iſt nur ein ſanfteres Vergeſſen deſ-[170]15
ſelben. — Alle Sachen des Vergnügens müſſen wie Einfälle und der
Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlaſſen bleiben. —
Er [Otto?] iſt ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge-
bükter Lehrer ſondern gerade wie ein deutſches Komma, unähnlich dem
krummen franzöſiſchen. Sie umfäſſet ein unſichtbarer Arm. Es iſt20
unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr
Freund zu ſein — ich meine wir lieben Sie alle. — Wir beide halten
den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, alſo
giebt es für [uns] weder aktive noch paſſive gêne. Es iſt ſonderbar, daß
die Franzoſen nur das Wort und die Deutſchen nur die Sache haben. —25
Fränklin räth an, man ſol jede Nacht die Betten wechſeln. Warlich
man ſolte — Menſchen ausgenommen — alles wechſeln (und ab-
danken nichts), zuerſt auſſer den Hemden Stuben, Spaziergänge,
beſonders Städte, ich meine man ſolte in 2 Städten wohnen und
zwiſchen ihnen hin und herziehen. Der jüdiſche lange Tag unſers30
Lebens würde uns durch ſein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn
nicht die ſanfte Natur zwiſchen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf
als die Folie des Wachens eingeſchoben hätte. Daher kan — oder die
ganze Menſchennatur wird gefelgt und umgeſtürzt — die 2te Welt kein
grünes Sumpfwaſſer einer fixen Ewigkeit ſein ſondern ein unabſeh-35
licher Wechſel, d. h. ein unabſehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O
ich habe oft kindiſch zu mir geſagt: ich bin nur froh, daß ich exiſtiere und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0186" n="173"/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>278. An <hi rendition="#g">Friedrich von Oertel in Leipzig.</hi></head><lb/>
        <note type="editorial">[Kopie]</note>
        <dateline> <hi rendition="#right">[Hof, 3. April 1796. Sonntag]</hi> </dateline><lb/>
        <p>Ihre Briefe &#x017F;ind der be&#x017F;te Exorzi&#x017F;mus gegen den Teufel der Stum-<lb/>
heit &#x2014; &#x017F;ie &#x017F;ind eine fixe Be&#x017F;oldung für jedes Wort, das man frankiert;<lb/>
man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wech&#x017F;elbrief. Ich mu&#x017F;te<lb n="5"/>
mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag<lb/>
nichts in der Hand zu haben als &#x017F;tat Ihrer &#x017F;anften warmen den Kiel. &#x2014;<lb/>
Ich ruhe nicht unter &#x017F;ondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich<lb/>
meinem Gei&#x017F;t und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am<lb/>
zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein<lb n="10"/>
Ne&#x017F;t vol Eier oder Kreide. Der arme <hi rendition="#aq">Paul</hi> wirds &#x017F;o forttreiben [bis]<lb/>
die gequälte fieberhafte Bru&#x017F;t von der lezten Erd&#x017F;cholle gekühlt [i&#x017F;t].<lb/>
Un&#x017F;er Leben i&#x017F;t eine Kette von Mitteln &#x2014; dem lezten und neue&#x017F;ten<lb/>
trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdur&#x017F;t &#x2014;<lb/>
und un&#x017F;er Genie&#x017F;&#x017F;en des Lebens i&#x017F;t nur ein &#x017F;anfteres Verge&#x017F;&#x017F;en de&#x017F;-<note place="right"><ref target="1922_Bd2_170">[170]</ref></note><lb n="15"/>
&#x017F;elben. &#x2014; Alle Sachen des Vergnügens mü&#x017F;&#x017F;en wie Einfälle und der<lb/>
Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überla&#x017F;&#x017F;en bleiben. &#x2014;<lb/>
Er [Otto?] i&#x017F;t ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge-<lb/>
bükter Lehrer &#x017F;ondern gerade wie ein deut&#x017F;ches Komma, unähnlich dem<lb/>
krummen franzö&#x017F;i&#x017F;chen. Sie umfä&#x017F;&#x017F;et ein un&#x017F;ichtbarer Arm. Es i&#x017F;t<lb n="20"/>
unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr<lb/>
Freund zu &#x017F;ein &#x2014; ich meine wir lieben Sie alle. &#x2014; Wir beide halten<lb/>
den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, al&#x017F;o<lb/>
giebt es für [uns] weder aktive noch pa&#x017F;&#x017F;ive <hi rendition="#aq">gêne.</hi> Es i&#x017F;t &#x017F;onderbar, daß<lb/>
die Franzo&#x017F;en nur das Wort und die Deut&#x017F;chen nur die Sache haben. &#x2014;<lb n="25"/>
Fränklin räth an, man &#x017F;ol jede Nacht die Betten wech&#x017F;eln. Warlich<lb/>
man &#x017F;olte &#x2014; Men&#x017F;chen ausgenommen &#x2014; alles wech&#x017F;eln (und ab-<lb/>
danken nichts), zuer&#x017F;t au&#x017F;&#x017F;er den Hemden Stuben, Spaziergänge,<lb/>
be&#x017F;onders Städte, ich meine man &#x017F;olte in 2 Städten wohnen und<lb/>
zwi&#x017F;chen ihnen hin und herziehen. Der jüdi&#x017F;che lange Tag un&#x017F;ers<lb n="30"/>
Lebens würde uns durch &#x017F;ein ewiges <hi rendition="#aq">Idem</hi> abmatten und ekeln, wenn<lb/>
nicht die &#x017F;anfte Natur zwi&#x017F;chen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf<lb/>
als die Folie des Wachens einge&#x017F;choben hätte. Daher kan &#x2014; oder die<lb/>
ganze Men&#x017F;chennatur wird gefelgt und umge&#x017F;türzt &#x2014; die 2<hi rendition="#sup">te</hi> Welt kein<lb/>
grünes Sumpfwa&#x017F;&#x017F;er einer fixen Ewigkeit &#x017F;ein &#x017F;ondern ein unab&#x017F;eh-<lb n="35"/>
licher Wech&#x017F;el, d. h. ein unab&#x017F;ehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O<lb/>
ich habe oft kindi&#x017F;ch zu mir ge&#x017F;agt: ich bin nur froh, daß ich exi&#x017F;tiere und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0186] 278. An Friedrich von Oertel in Leipzig. [Hof, 3. April 1796. Sonntag] Ihre Briefe ſind der beſte Exorziſmus gegen den Teufel der Stum- heit — ſie ſind eine fixe Beſoldung für jedes Wort, das man frankiert; man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechſelbrief. Ich muſte 5 mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag nichts in der Hand zu haben als ſtat Ihrer ſanften warmen den Kiel. — Ich ruhe nicht unter ſondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich meinem Geiſt und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein 10 Neſt vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds ſo forttreiben [bis] die gequälte fieberhafte Bruſt von der lezten Erdſcholle gekühlt [iſt]. Unſer Leben iſt eine Kette von Mitteln — dem lezten und neueſten trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurſt — und unſer Genieſſen des Lebens iſt nur ein ſanfteres Vergeſſen deſ- 15 ſelben. — Alle Sachen des Vergnügens müſſen wie Einfälle und der Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlaſſen bleiben. — Er [Otto?] iſt ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge- bükter Lehrer ſondern gerade wie ein deutſches Komma, unähnlich dem krummen franzöſiſchen. Sie umfäſſet ein unſichtbarer Arm. Es iſt 20 unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr Freund zu ſein — ich meine wir lieben Sie alle. — Wir beide halten den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, alſo giebt es für [uns] weder aktive noch paſſive gêne. Es iſt ſonderbar, daß die Franzoſen nur das Wort und die Deutſchen nur die Sache haben. — 25 Fränklin räth an, man ſol jede Nacht die Betten wechſeln. Warlich man ſolte — Menſchen ausgenommen — alles wechſeln (und ab- danken nichts), zuerſt auſſer den Hemden Stuben, Spaziergänge, beſonders Städte, ich meine man ſolte in 2 Städten wohnen und zwiſchen ihnen hin und herziehen. Der jüdiſche lange Tag unſers 30 Lebens würde uns durch ſein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn nicht die ſanfte Natur zwiſchen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf als die Folie des Wachens eingeſchoben hätte. Daher kan — oder die ganze Menſchennatur wird gefelgt und umgeſtürzt — die 2te Welt kein grünes Sumpfwaſſer einer fixen Ewigkeit ſein ſondern ein unabſeh- 35 licher Wechſel, d. h. ein unabſehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O ich habe oft kindiſch zu mir geſagt: ich bin nur froh, daß ich exiſtiere und [170]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/186
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/186>, abgerufen am 21.11.2024.