Ihre Briefe sind der beste Exorzismus gegen den Teufel der Stum- heit -- sie sind eine fixe Besoldung für jedes Wort, das man frankiert; man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechselbrief. Ich muste5 mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag nichts in der Hand zu haben als stat Ihrer sanften warmen den Kiel. -- Ich ruhe nicht unter sondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich meinem Geist und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein10 Nest vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds so forttreiben [bis] die gequälte fieberhafte Brust von der lezten Erdscholle gekühlt [ist]. Unser Leben ist eine Kette von Mitteln -- dem lezten und neuesten trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurst -- und unser Geniessen des Lebens ist nur ein sanfteres Vergessen des-[170]15 selben. -- Alle Sachen des Vergnügens müssen wie Einfälle und der Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlassen bleiben. -- Er [Otto?] ist ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge- bükter Lehrer sondern gerade wie ein deutsches Komma, unähnlich dem krummen französischen. Sie umfässet ein unsichtbarer Arm. Es ist20 unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr Freund zu sein -- ich meine wir lieben Sie alle. -- Wir beide halten den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, also giebt es für [uns] weder aktive noch passive gene. Es ist sonderbar, daß die Franzosen nur das Wort und die Deutschen nur die Sache haben. --25 Fränklin räth an, man sol jede Nacht die Betten wechseln. Warlich man solte -- Menschen ausgenommen -- alles wechseln (und ab- danken nichts), zuerst ausser den Hemden Stuben, Spaziergänge, besonders Städte, ich meine man solte in 2 Städten wohnen und zwischen ihnen hin und herziehen. Der jüdische lange Tag unsers30 Lebens würde uns durch sein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn nicht die sanfte Natur zwischen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf als die Folie des Wachens eingeschoben hätte. Daher kan -- oder die ganze Menschennatur wird gefelgt und umgestürzt -- die 2te Welt kein grünes Sumpfwasser einer fixen Ewigkeit sein sondern ein unabseh-35 licher Wechsel, d. h. ein unabsehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O ich habe oft kindisch zu mir gesagt: ich bin nur froh, daß ich existiere und
278. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
[Kopie][Hof, 3. April 1796. Sonntag]
Ihre Briefe ſind der beſte Exorziſmus gegen den Teufel der Stum- heit — ſie ſind eine fixe Beſoldung für jedes Wort, das man frankiert; man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechſelbrief. Ich muſte5 mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag nichts in der Hand zu haben als ſtat Ihrer ſanften warmen den Kiel. — Ich ruhe nicht unter ſondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich meinem Geiſt und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein10 Neſt vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds ſo forttreiben [bis] die gequälte fieberhafte Bruſt von der lezten Erdſcholle gekühlt [iſt]. Unſer Leben iſt eine Kette von Mitteln — dem lezten und neueſten trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurſt — und unſer Genieſſen des Lebens iſt nur ein ſanfteres Vergeſſen deſ-[170]15 ſelben. — Alle Sachen des Vergnügens müſſen wie Einfälle und der Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlaſſen bleiben. — Er [Otto?] iſt ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge- bükter Lehrer ſondern gerade wie ein deutſches Komma, unähnlich dem krummen franzöſiſchen. Sie umfäſſet ein unſichtbarer Arm. Es iſt20 unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr Freund zu ſein — ich meine wir lieben Sie alle. — Wir beide halten den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, alſo giebt es für [uns] weder aktive noch paſſive gêne. Es iſt ſonderbar, daß die Franzoſen nur das Wort und die Deutſchen nur die Sache haben. —25 Fränklin räth an, man ſol jede Nacht die Betten wechſeln. Warlich man ſolte — Menſchen ausgenommen — alles wechſeln (und ab- danken nichts), zuerſt auſſer den Hemden Stuben, Spaziergänge, beſonders Städte, ich meine man ſolte in 2 Städten wohnen und zwiſchen ihnen hin und herziehen. Der jüdiſche lange Tag unſers30 Lebens würde uns durch ſein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn nicht die ſanfte Natur zwiſchen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf als die Folie des Wachens eingeſchoben hätte. Daher kan — oder die ganze Menſchennatur wird gefelgt und umgeſtürzt — die 2te Welt kein grünes Sumpfwaſſer einer fixen Ewigkeit ſein ſondern ein unabſeh-35 licher Wechſel, d. h. ein unabſehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O ich habe oft kindiſch zu mir geſagt: ich bin nur froh, daß ich exiſtiere und
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278. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
[Hof, 3. April 1796. Sonntag]
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heit — ſie ſind eine fixe Beſoldung für jedes Wort, das man frankiert;
man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechſelbrief. Ich muſte 5
mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag
nichts in der Hand zu haben als ſtat Ihrer ſanften warmen den Kiel. —
Ich ruhe nicht unter ſondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich
meinem Geiſt und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am
zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein 10
Neſt vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds ſo forttreiben [bis]
die gequälte fieberhafte Bruſt von der lezten Erdſcholle gekühlt [iſt].
Unſer Leben iſt eine Kette von Mitteln — dem lezten und neueſten
trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurſt —
und unſer Genieſſen des Lebens iſt nur ein ſanfteres Vergeſſen deſ- 15
ſelben. — Alle Sachen des Vergnügens müſſen wie Einfälle und der
Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlaſſen bleiben. —
Er [Otto?] iſt ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge-
bükter Lehrer ſondern gerade wie ein deutſches Komma, unähnlich dem
krummen franzöſiſchen. Sie umfäſſet ein unſichtbarer Arm. Es iſt 20
unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr
Freund zu ſein — ich meine wir lieben Sie alle. — Wir beide halten
den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, alſo
giebt es für [uns] weder aktive noch paſſive gêne. Es iſt ſonderbar, daß
die Franzoſen nur das Wort und die Deutſchen nur die Sache haben. — 25
Fränklin räth an, man ſol jede Nacht die Betten wechſeln. Warlich
man ſolte — Menſchen ausgenommen — alles wechſeln (und ab-
danken nichts), zuerſt auſſer den Hemden Stuben, Spaziergänge,
beſonders Städte, ich meine man ſolte in 2 Städten wohnen und
zwiſchen ihnen hin und herziehen. Der jüdiſche lange Tag unſers 30
Lebens würde uns durch ſein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn
nicht die ſanfte Natur zwiſchen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf
als die Folie des Wachens eingeſchoben hätte. Daher kan — oder die
ganze Menſchennatur wird gefelgt und umgeſtürzt — die 2te Welt kein
grünes Sumpfwaſſer einer fixen Ewigkeit ſein ſondern ein unabſeh- 35
licher Wechſel, d. h. ein unabſehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O
ich habe oft kindiſch zu mir geſagt: ich bin nur froh, daß ich exiſtiere und
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/186>, abgerufen am 21.11.2024.
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