10 000 etc. Dinge hab' ich zu schreiben; da ich aber keinen Plaz [habe], so lass' ich sie aus und beschreibe dir nur die einzige Gevatter- schaft. -- ich bin so gut in den Taufbund aufgenommen worden wie5 das Kind -- ich glaube ich dürfte mit der seidnen Besohlung, mit dem polygon[alen] Hut und dem seidnen Fus- und Beinwerk, bessere Figur gemacht haben als dem Neide lieb sein mochte. Mein Kopf war wie ein Handschuh [?] nicht nur gepudert sondern auch frisiert. -- Du wilst mir einen orthographischen Prozes an den Hals hängen;10 aber ich vergleiche mich -- weil jezt so viele Rechtschreibungen florieren als Regenbogen.
[22]39. An Karoline Herold.
[Hof] d. 4. Nov. 94.
An [Karoline.]15
Warum seh' ich nur deine Augen und deine Lippen und nicht dein Herz? Warum erblick' ichs nicht, wenn du in der Stille weinst, wenn deine Blicke wie Seufzer emporsteigen und wenn deine Seele am Abendhimmel, an der Einsamkeit, oder an Tönen ruht? -- O daß ich dein Engel wäre und von Unsichtbarkeit gedekt, in deine Seele schauen20 könte -- Vielleicht säh' ichs dan, wie sie ist -- ob sie sich vol Andacht beugt im grossen Tempel, den der Unendliche aus Sternen und Wel- ten aufgeführet hat, -- ob ihr Herz harmonisch mit den Saiten zittert, wenn Klagen auf ihnen beben, -- ob alle Menschen wie hülflose Kinder an dein Herz von deinen Armen liebend gezogen werden -- ob du25 weinest, nicht blos über den Druk, der dich, sondern auch über den der andere krümt? -- O wenn du so weich bist und so milde und liebevol und erhaben über die Spielmarken deines Geschlechts und wenn dein Herz sich nicht [nach] einem lustigen Tag, sondern nach etwas höherem, nach grössern Gedanken, die noch über den Gräbern stralen, und nach30 einer Seele vol Tugend sehnet -- o wenn du so wärest und wenn ich dich einmal in diesem heiligen Schimmer, in dieser himlischen Zer- fliessung überraschte: dan wär' ich zu glüklich -- -- dan liebt' ich dich zu sehr -- dan säh' ich in dein stilles Auge und sagte: falle nie zu, du gutes Auge -- und ich sänke nieder vor deinem Herzen und sagte:35
38. An Wernlein in Neuſtadt a. d. Aiſch.
[Kopie][Hof, 3. Nov. 1794]
10 000 ꝛc. Dinge hab’ ich zu ſchreiben; da ich aber keinen Plaz [habe], ſo laſſ’ ich ſie aus und beſchreibe dir nur die einzige Gevatter- ſchaft. — ich bin ſo gut in den Taufbund aufgenommen worden wie5 das Kind — ich glaube ich dürfte mit der ſeidnen Beſohlung, mit dem polygon[alen] Hut und dem ſeidnen Fus- und Beinwerk, beſſere Figur gemacht haben als dem Neide lieb ſein mochte. Mein Kopf war wie ein Handſchuh [?] nicht nur gepudert ſondern auch friſiert. — Du wilſt mir einen orthographiſchen Prozes an den Hals hängen;10 aber ich vergleiche mich — weil jezt ſo viele Rechtſchreibungen florieren als Regenbogen.
[22]39. An Karoline Herold.
[Hof] d. 4. Nov. 94.
An [Karoline.]15
Warum ſeh’ ich nur deine Augen und deine Lippen und nicht dein Herz? Warum erblick’ ichs nicht, wenn du in der Stille weinſt, wenn deine Blicke wie Seufzer emporſteigen und wenn deine Seele am Abendhimmel, an der Einſamkeit, oder an Tönen ruht? — O daß ich dein Engel wäre und von Unſichtbarkeit gedekt, in deine Seele ſchauen20 könte — Vielleicht ſäh’ ichs dan, wie ſie iſt — ob ſie ſich vol Andacht beugt im groſſen Tempel, den der Unendliche aus Sternen und Wel- ten aufgeführet hat, — ob ihr Herz harmoniſch mit den Saiten zittert, wenn Klagen auf ihnen beben, — ob alle Menſchen wie hülfloſe Kinder an dein Herz von deinen Armen liebend gezogen werden — ob du25 weineſt, nicht blos über den Druk, der dich, ſondern auch über den der andere krümt? — O wenn du ſo weich biſt und ſo milde und liebevol und erhaben über die Spielmarken deines Geſchlechts und wenn dein Herz ſich nicht [nach] einem luſtigen Tag, ſondern nach etwas höherem, nach gröſſern Gedanken, die noch über den Gräbern ſtralen, und nach30 einer Seele vol Tugend ſehnet — o wenn du ſo wäreſt und wenn ich dich einmal in dieſem heiligen Schimmer, in dieſer himliſchen Zer- flieſſung überraſchte: dan wär’ ich zu glüklich — — dan liebt’ ich dich zu ſehr — dan ſäh’ ich in dein ſtilles Auge und ſagte: falle nie zu, du gutes Auge — und ich ſänke nieder vor deinem Herzen und ſagte:35
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38. An Wernlein in Neuſtadt a. d. Aiſch.
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[habe], ſo laſſ’ ich ſie aus und beſchreibe dir nur die einzige Gevatter-
ſchaft. — ich bin ſo gut in den Taufbund aufgenommen worden wie 5
das Kind — ich glaube ich dürfte mit der ſeidnen Beſohlung, mit
dem polygon[alen] Hut und dem ſeidnen Fus- und Beinwerk, beſſere
Figur gemacht haben als dem Neide lieb ſein mochte. Mein Kopf
war wie ein Handſchuh [?] nicht nur gepudert ſondern auch friſiert.
— Du wilſt mir einen orthographiſchen Prozes an den Hals hängen; 10
aber ich vergleiche mich — weil jezt ſo viele Rechtſchreibungen
florieren als Regenbogen.
39. An Karoline Herold.
[Hof] d. 4. Nov. 94.
An [Karoline.] 15
Warum ſeh’ ich nur deine Augen und deine Lippen und nicht dein
Herz? Warum erblick’ ichs nicht, wenn du in der Stille weinſt, wenn
deine Blicke wie Seufzer emporſteigen und wenn deine Seele am
Abendhimmel, an der Einſamkeit, oder an Tönen ruht? — O daß ich
dein Engel wäre und von Unſichtbarkeit gedekt, in deine Seele ſchauen 20
könte — Vielleicht ſäh’ ichs dan, wie ſie iſt — ob ſie ſich vol Andacht
beugt im groſſen Tempel, den der Unendliche aus Sternen und Wel-
ten aufgeführet hat, — ob ihr Herz harmoniſch mit den Saiten zittert,
wenn Klagen auf ihnen beben, — ob alle Menſchen wie hülfloſe Kinder
an dein Herz von deinen Armen liebend gezogen werden — ob du 25
weineſt, nicht blos über den Druk, der dich, ſondern auch über den
der andere krümt? — O wenn du ſo weich biſt und ſo milde und liebevol
und erhaben über die Spielmarken deines Geſchlechts und wenn dein
Herz ſich nicht [nach] einem luſtigen Tag, ſondern nach etwas höherem,
nach gröſſern Gedanken, die noch über den Gräbern ſtralen, und nach 30
einer Seele vol Tugend ſehnet — o wenn du ſo wäreſt und wenn ich
dich einmal in dieſem heiligen Schimmer, in dieſer himliſchen Zer-
flieſſung überraſchte: dan wär’ ich zu glüklich — — dan liebt’ ich
dich zu ſehr — dan ſäh’ ich in dein ſtilles Auge und ſagte: falle nie zu,
du gutes Auge — und ich ſänke nieder vor deinem Herzen und ſagte: 35
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/39>, abgerufen am 21.11.2024.
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