möchte, wenn es nicht der Vater beider wäre. -- In der Kabbala ist mehr Philosophie, (in Dichtkunst vererzt,) als in jenen beiden.
Alles was wir körperlich oder äusserlich vor dem Unendlichen thun, kurz was nicht Gedanke ist, also alles laute Beten, Knien, Hände- falten, ist Zeremonie, nicht Tugend (obwol Aeusserung der Tugend)5 und alles das könte eben so gut im Gegentheil bestehen: es wäre eben so from, wenn ich beim Beten aufstände als niederfiele, den Kopf bedekte (wie die Römer) als entblöste. Also folgt daraus gegen alle Zeremonien -- nicht das Geringste. Wir armen vom Fleisch-Panzer umklammerten Menschen, wir öden in die scharfen Ketten des Körpers10 geworfnen Seelen, wir müssen, wenn unser edles Ich seine Flügel auf- schlägt, diese innere Bewegung durch eine äussere unsers Gehäuses offenbaren. Wie? ist denn z. B. die geringste Aehnlichkeit, das geringste Verhältnis zwischen dem Druk der Hand oder der Lippe und zwischen dem liebenden heissen Gefühle, das mit jenem Druk schmerzhaft-süs aus15 seinem Kerker an den andern Leibes-Kerker der geliebten Seele klopft? Wenn ich vol Liebe meine Arme um die geliebte Gestalt herumlege: ist denn da zwischen diesem Zeichen und der bezeichneten Sache die mindeste Aehnlichkeit, da oft der Grol eben so gut umfasset, um zu erwürgen? -- Könte das Schütteln des Kopfes, das bei allen Völkern Nein be-20 deutet, nicht eben so gut ein Ja anzeigen? Also da unsere beklommene Seele keine Zunge und keine Farbe für ihre Bilder hat: so verschmähe niemand die Farben, die sie im Drange der Empfindung ergreift. O der arme Mensch! kan, wenn er auch den ganzen Tag darüber philoso- phieret hat, dieser kan wenn er draussen vor der untersinkenden Sonne25 [72]steht, die milde und gros zur anderen Halbkugel hinunterzieht und die der unsrigen an den Blüten und Bergen die Gesundheitsröthe eines sanft erwärmten Tages nachlässet, und wenn er als ein Wunder unter Wundern steht, als ein Glüklicher unter Glüklichen, als ein ewiger Geist unter den ewigen Körpern um ihn her, dieser Mensch kan abends, wenn30 er endlich in den Himmel, aus dem die Sonne gesunken ist, aufblikt zum grossen glimmenden Blau, in dem entflogne Funken des Thrones eines Ewigen schillern, dieser mus, von der Algewalt der Schöpfung nieder- gedrükt, auf die schwachen Menschenkniee stürzen und beten: "du Un- "endlicher, dein Geschöpf sinket zusammen, wenn du erscheinest, ach ich35 "werfe gerne dieses Angesicht aus Erde, dieses Herz aus Erde auf deine "Erde nieder, denn ich wil dir nicht danken, sondern nur zertrümmert
möchte, wenn es nicht der Vater beider wäre. — In der Kabbala iſt mehr Philoſophie, (in Dichtkunſt vererzt,) als in jenen beiden.
Alles was wir körperlich oder äuſſerlich vor dem Unendlichen thun, kurz was nicht Gedanke iſt, alſo alles laute Beten, Knien, Hände- falten, iſt Zeremonie, nicht Tugend (obwol Aeuſſerung der Tugend)5 und alles das könte eben ſo gut im Gegentheil beſtehen: es wäre eben ſo from, wenn ich beim Beten aufſtände als niederfiele, den Kopf bedekte (wie die Römer) als entblöſte. Alſo folgt daraus gegen alle Zeremonien — nicht das Geringſte. Wir armen vom Fleiſch-Panzer umklammerten Menſchen, wir öden in die ſcharfen Ketten des Körpers10 geworfnen Seelen, wir müſſen, wenn unſer edles Ich ſeine Flügel auf- ſchlägt, dieſe innere Bewegung durch eine äuſſere unſers Gehäuſes offenbaren. Wie? iſt denn z. B. die geringſte Aehnlichkeit, das geringſte Verhältnis zwiſchen dem Druk der Hand oder der Lippe und zwiſchen dem liebenden heiſſen Gefühle, das mit jenem Druk ſchmerzhaft-ſüs aus15 ſeinem Kerker an den andern Leibes-Kerker der geliebten Seele klopft? Wenn ich vol Liebe meine Arme um die geliebte Geſtalt herumlege: iſt denn da zwiſchen dieſem Zeichen und der bezeichneten Sache die mindeſte Aehnlichkeit, da oft der Grol eben ſo gut umfaſſet, um zu erwürgen? — Könte das Schütteln des Kopfes, das bei allen Völkern Nein be-20 deutet, nicht eben ſo gut ein Ja anzeigen? Alſo da unſere beklommene Seele keine Zunge und keine Farbe für ihre Bilder hat: ſo verſchmähe niemand die Farben, die ſie im Drange der Empfindung ergreift. O der arme Menſch! kan, wenn er auch den ganzen Tag darüber philoſo- phieret hat, dieſer kan wenn er drauſſen vor der unterſinkenden Sonne25 [72]ſteht, die milde und gros zur anderen Halbkugel hinunterzieht und die der unſrigen an den Blüten und Bergen die Geſundheitsröthe eines ſanft erwärmten Tages nachläſſet, und wenn er als ein Wunder unter Wundern ſteht, als ein Glüklicher unter Glüklichen, als ein ewiger Geiſt unter den ewigen Körpern um ihn her, dieſer Menſch kan abends, wenn30 er endlich in den Himmel, aus dem die Sonne geſunken iſt, aufblikt zum groſſen glimmenden Blau, in dem entflogne Funken des Thrones eines Ewigen ſchillern, dieſer mus, von der Algewalt der Schöpfung nieder- gedrükt, auf die ſchwachen Menſchenkniee ſtürzen und beten: „du Un- „endlicher, dein Geſchöpf ſinket zuſammen, wenn du erſcheineſt, ach ich35 „werfe gerne dieſes Angeſicht aus Erde, dieſes Herz aus Erde auf deine „Erde nieder, denn ich wil dir nicht danken, ſondern nur zertrümmert
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möchte, wenn es nicht der Vater beider wäre. — In der Kabbala iſt
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und alles das könte eben ſo gut im Gegentheil beſtehen: es wäre eben
ſo from, wenn ich beim Beten aufſtände als niederfiele, den Kopf
bedekte (wie die Römer) als entblöſte. Alſo folgt daraus gegen alle
Zeremonien — nicht das Geringſte. Wir armen vom Fleiſch-Panzer
umklammerten Menſchen, wir öden in die ſcharfen Ketten des Körpers 10
geworfnen Seelen, wir müſſen, wenn unſer edles Ich ſeine Flügel auf-
ſchlägt, dieſe innere Bewegung durch eine äuſſere unſers Gehäuſes
offenbaren. Wie? iſt denn z. B. die geringſte Aehnlichkeit, das geringſte
Verhältnis zwiſchen dem Druk der Hand oder der Lippe und zwiſchen dem
liebenden heiſſen Gefühle, das mit jenem Druk ſchmerzhaft-ſüs aus 15
ſeinem Kerker an den andern Leibes-Kerker der geliebten Seele klopft?
Wenn ich vol Liebe meine Arme um die geliebte Geſtalt herumlege: iſt
denn da zwiſchen dieſem Zeichen und der bezeichneten Sache die mindeſte
Aehnlichkeit, da oft der Grol eben ſo gut umfaſſet, um zu erwürgen?
— Könte das Schütteln des Kopfes, das bei allen Völkern Nein be- 20
deutet, nicht eben ſo gut ein Ja anzeigen? Alſo da unſere beklommene
Seele keine Zunge und keine Farbe für ihre Bilder hat: ſo verſchmähe
niemand die Farben, die ſie im Drange der Empfindung ergreift. O der
arme Menſch! kan, wenn er auch den ganzen Tag darüber philoſo-
phieret hat, dieſer kan wenn er drauſſen vor der unterſinkenden Sonne 25
ſteht, die milde und gros zur anderen Halbkugel hinunterzieht und die
der unſrigen an den Blüten und Bergen die Geſundheitsröthe eines
ſanft erwärmten Tages nachläſſet, und wenn er als ein Wunder unter
Wundern ſteht, als ein Glüklicher unter Glüklichen, als ein ewiger Geiſt
unter den ewigen Körpern um ihn her, dieſer Menſch kan abends, wenn 30
er endlich in den Himmel, aus dem die Sonne geſunken iſt, aufblikt zum
groſſen glimmenden Blau, in dem entflogne Funken des Thrones eines
Ewigen ſchillern, dieſer mus, von der Algewalt der Schöpfung nieder-
gedrükt, auf die ſchwachen Menſchenkniee ſtürzen und beten: „du Un-
„endlicher, dein Geſchöpf ſinket zuſammen, wenn du erſcheineſt, ach ich 35
„werfe gerne dieſes Angeſicht aus Erde, dieſes Herz aus Erde auf deine
„Erde nieder, denn ich wil dir nicht danken, ſondern nur zertrümmert
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/87>, abgerufen am 21.11.2024.
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