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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 7. Berlin, 1954.

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Die Hauptsache bleibt der Fürst Primas. Ein langer, etwas vor-
gebogener Mann mit einem Kraftprofil, zumal der Nase -- nur
das linke Auge immer aus Schwäche schließend -- übrigens im
Reden wie in allem mehr Gelehrter als Fürst. Am ersten Tag von
11 bis 12 -- wo er nach meiner Frau fragte (Abends nimmt er5
niemand an) -- und bei dem Mittagessen -- wo er ihre Gesundheit
trank -- bis Abends, wo er mich zum preußischen Gesandten Grafen
Goerz brachte, war unsere Bekanntschaft so entschieden, daß ich seit
Herders Tode das erste Gastmal dieser Art genossen. Nie hatt' ich
in so kurzer Zeit einen Fürsten nur 1/8 so lieb gewonnen. Seitdem10
geht jeden Tag pünktlich um 6 Uhr die Landkutsche oder Journaliere
von ihm ab nach dem Gasthof zum goldnen Kreuze und bringt mich
nach 73/4 Uhr wieder zurück. So sitzen wir beide oft bis ins Dunkle
bei einer nur halb austropfenden Weinflasche und die Gespräche
sind über Religion -- Physik -- Philosophie -- und alles Wissen-15
schaftliche. Im Glauben und Streben ist er ein Geistlicher im
würdigsten Wortes Sinn. Wissenschaftliche Gespräche lassen kaum
politischen oder individuellen Platz; gleichwol entdeckt er mir offen
die Irrwege seiner Jugend, kurz hundert Dinge, die ich nur mündlich
euch, Otto und Emanuel, erzählen kann. -- Sein Arbeittag hat20
10 Stunden, und er zeigte mir selber den Zettel, wo um 7 Uhr der
beifolgende Brief an mich als Arbeit vorkam -- 2 Stunden lieset
er Akten -- 2 Stunden arbeitet er an seinem Werke über den
"Christianisme" u.s.w. Nach geistiger Erschöpfung sei ihm, sagt
er, Beten Wiederstärkung. Seine Grundsätze sind die der höchsten25
Anbetung Gottes und der Selbdemüthigung. Gegen mein Unter-
stellen Christi unter Gott sagte er -- blos sanft: Nein! -- Er verlangt
meine Urtheile und that die große Frage des Pilatus an mich:
Was ist Wahrheit? Meine nicht leichte Antwort befriedigte ihn;
aber ihr sollt sie -- hören. -- Ich schone den guten alten Mann30
von 74 Jahren im Disputieren. Bei der ersten Malzeit, wo nur
Gelehrte waren, nannte er mich wegen des Kampfes mit dem astro-
nomischen Professor Placidus über das Verhältnis der Philosophie
zur Mathematik den Negazionrath; eine Würde, die ein Ehemann
schon vorher von seiner Gattin erhält und mitbringt. Auf die Ge-35
sundheit meiner Kinder trank er gestern in der Abendaurorastunde,
da ich von ihnen erzählen müssen. Er fragte mich, ob mir Oertel

Die Hauptſache bleibt der Fürſt Primas. Ein langer, etwas vor-
gebogener Mann mit einem Kraftprofil, zumal der Naſe — nur
das linke Auge immer aus Schwäche ſchließend — übrigens im
Reden wie in allem mehr Gelehrter als Fürſt. Am erſten Tag von
11 bis 12 — wo er nach meiner Frau fragte (Abends nimmt er5
niemand an) — und bei dem Mittageſſen — wo er ihre Geſundheit
trank — bis Abends, wo er mich zum preußiſchen Geſandten Grafen
Goerz brachte, war unſere Bekanntſchaft ſo entſchieden, daß ich ſeit
Herders Tode das erſte Gaſtmal dieſer Art genoſſen. Nie hatt’ ich
in ſo kurzer Zeit einen Fürſten nur ⅛ ſo lieb gewonnen. Seitdem10
geht jeden Tag pünktlich um 6 Uhr die Landkutſche oder Journaliere
von ihm ab nach dem Gaſthof zum goldnen Kreuze und bringt mich
nach 7¾ Uhr wieder zurück. So ſitzen wir beide oft bis ins Dunkle
bei einer nur halb austropfenden Weinflaſche und die Geſpräche
ſind über Religion — Phyſik — Philoſophie — und alles Wiſſen-15
ſchaftliche. Im Glauben und Streben iſt er ein Geiſtlicher im
würdigſten Wortes Sinn. Wiſſenſchaftliche Geſpräche laſſen kaum
politiſchen oder individuellen Platz; gleichwol entdeckt er mir offen
die Irrwege ſeiner Jugend, kurz hundert Dinge, die ich nur mündlich
euch, Otto und Emanuel, erzählen kann. — Sein Arbeittag hat20
10 Stunden, und er zeigte mir ſelber den Zettel, wo um 7 Uhr der
beifolgende Brief an mich als Arbeit vorkam — 2 Stunden lieſet
er Akten — 2 Stunden arbeitet er an ſeinem Werke über den
„Christianisme“ u.ſ.w. Nach geiſtiger Erſchöpfung ſei ihm, ſagt
er, Beten Wiederſtärkung. Seine Grundſätze ſind die der höchſten25
Anbetung Gottes und der Selbdemüthigung. Gegen mein Unter-
ſtellen Chriſti unter Gott ſagte er — blos ſanft: Nein! — Er verlangt
meine Urtheile und that die große Frage des Pilatus an mich:
Was iſt Wahrheit? Meine nicht leichte Antwort befriedigte ihn;
aber ihr ſollt ſie — hören. — Ich ſchone den guten alten Mann30
von 74 Jahren im Diſputieren. Bei der erſten Malzeit, wo nur
Gelehrte waren, nannte er mich wegen des Kampfes mit dem aſtro-
nomiſchen Profeſſor Placidus über das Verhältnis der Philoſophie
zur Mathematik den Negazionrath; eine Würde, die ein Ehemann
ſchon vorher von ſeiner Gattin erhält und mitbringt. Auf die Ge-35
ſundheit meiner Kinder trank er geſtern in der Abendauroraſtunde,
da ich von ihnen erzählen müſſen. Er fragte mich, ob mir Oertel

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[79/0084] Die Hauptſache bleibt der Fürſt Primas. Ein langer, etwas vor- gebogener Mann mit einem Kraftprofil, zumal der Naſe — nur das linke Auge immer aus Schwäche ſchließend — übrigens im Reden wie in allem mehr Gelehrter als Fürſt. Am erſten Tag von 11 bis 12 — wo er nach meiner Frau fragte (Abends nimmt er 5 niemand an) — und bei dem Mittageſſen — wo er ihre Geſundheit trank — bis Abends, wo er mich zum preußiſchen Geſandten Grafen Goerz brachte, war unſere Bekanntſchaft ſo entſchieden, daß ich ſeit Herders Tode das erſte Gaſtmal dieſer Art genoſſen. Nie hatt’ ich in ſo kurzer Zeit einen Fürſten nur ⅛ ſo lieb gewonnen. Seitdem 10 geht jeden Tag pünktlich um 6 Uhr die Landkutſche oder Journaliere von ihm ab nach dem Gaſthof zum goldnen Kreuze und bringt mich nach 7¾ Uhr wieder zurück. So ſitzen wir beide oft bis ins Dunkle bei einer nur halb austropfenden Weinflaſche und die Geſpräche ſind über Religion — Phyſik — Philoſophie — und alles Wiſſen- 15 ſchaftliche. Im Glauben und Streben iſt er ein Geiſtlicher im würdigſten Wortes Sinn. Wiſſenſchaftliche Geſpräche laſſen kaum politiſchen oder individuellen Platz; gleichwol entdeckt er mir offen die Irrwege ſeiner Jugend, kurz hundert Dinge, die ich nur mündlich euch, Otto und Emanuel, erzählen kann. — Sein Arbeittag hat 20 10 Stunden, und er zeigte mir ſelber den Zettel, wo um 7 Uhr der beifolgende Brief an mich als Arbeit vorkam — 2 Stunden lieſet er Akten — 2 Stunden arbeitet er an ſeinem Werke über den „Christianisme“ u.ſ.w. Nach geiſtiger Erſchöpfung ſei ihm, ſagt er, Beten Wiederſtärkung. Seine Grundſätze ſind die der höchſten 25 Anbetung Gottes und der Selbdemüthigung. Gegen mein Unter- ſtellen Chriſti unter Gott ſagte er — blos ſanft: Nein! — Er verlangt meine Urtheile und that die große Frage des Pilatus an mich: Was iſt Wahrheit? Meine nicht leichte Antwort befriedigte ihn; aber ihr ſollt ſie — hören. — Ich ſchone den guten alten Mann 30 von 74 Jahren im Diſputieren. Bei der erſten Malzeit, wo nur Gelehrte waren, nannte er mich wegen des Kampfes mit dem aſtro- nomiſchen Profeſſor Placidus über das Verhältnis der Philoſophie zur Mathematik den Negazionrath; eine Würde, die ein Ehemann ſchon vorher von ſeiner Gattin erhält und mitbringt. Auf die Ge- 35 ſundheit meiner Kinder trank er geſtern in der Abendauroraſtunde, da ich von ihnen erzählen müſſen. Er fragte mich, ob mir Oertel

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:19:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:19:52Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 7. Berlin, 1954, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe07_1954/84>, abgerufen am 23.11.2024.