Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
das Uebergewicht der physischen Kraft warf sich
wie heutzutage im System der öffentlichen Rechtspflege 26) regel-
mäßig auf Seiten dessen, der Recht hatte. Im Rechts-
gefühl liegt einmal der Trieb sich zu realisiren, und eine Ver-
letzung desselben, treffe sie nun zunächst auch nur den Einzelnen,
wird nicht bloß in ihm, sondern in der Gesammtheit jenen Trieb
in Bewegung setzen. Findet er kein verfassungsmäßiges Organ
zu seiner Realisirung vor, so wird er sie sich in unmittelbarer
Weise zu verschaffen suchen. Möge kein Richter da sein, der
den Verbrecher zur Rechenschaft zieht und straft, letzteren ereilt
dennoch die Strafe und vielleicht sicherer und rascher, als bei
der ausgebildetsten Organisation der Strafrechtspflege; es ist
die Volks justiz, die die verletzte Volks moral zur Anerkennung
bringt. Was aber in unsern jetzigen Zuständen die Furcht vor
der Strafe des Gesetzes und dem Richtschwert der Obrigkeit
bewirkt, das leistet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen
Arme jener Volksjustiz. Es wäre also sehr verkehrt, sich jenen
Zustand in der Weise auszumalen, als ob Scenen der Volks-
justiz und einer gewaltsamen Privatselbsthülfe an der Tages-
ordnung gewesen seien. Wenn die Furcht vor der Strafe von
dem Verbrechen, die Aussicht auf die Erfolglosigkeit des Wider-
standes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, so that sie
das dort sowohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem

26) In diesem System ist ebensowohl das Gegentheil möglich, wie dort.
In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig ist, vermag der Arm
der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Gesetzes gesprochen.
Das Jahr 1848 hat uns ja Beispiele die Menge gegeben. An der überlegenen
Widerstandskraft und der Erregtheit der Masse kann im wohlorganisirten
Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger scheitern, wie im System
der Selbsthülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher
zeigen, daß der ganze römische Prozeß auf die Voraussetzung gebaut ist, von
der wir hier ausgehen. Der römische Richter exekutirt nicht, sondern überläßt
dies dem Sieger, supponirt also, daß die physischen Mittel des
Rechts der physischen Widerstandskraft des Unrechts über-
legen sind
.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
das Uebergewicht der phyſiſchen Kraft warf ſich
wie heutzutage im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege 26) regel-
mäßig auf Seiten deſſen, der Recht hatte. Im Rechts-
gefühl liegt einmal der Trieb ſich zu realiſiren, und eine Ver-
letzung deſſelben, treffe ſie nun zunächſt auch nur den Einzelnen,
wird nicht bloß in ihm, ſondern in der Geſammtheit jenen Trieb
in Bewegung ſetzen. Findet er kein verfaſſungsmäßiges Organ
zu ſeiner Realiſirung vor, ſo wird er ſie ſich in unmittelbarer
Weiſe zu verſchaffen ſuchen. Möge kein Richter da ſein, der
den Verbrecher zur Rechenſchaft zieht und ſtraft, letzteren ereilt
dennoch die Strafe und vielleicht ſicherer und raſcher, als bei
der ausgebildetſten Organiſation der Strafrechtspflege; es iſt
die Volks juſtiz, die die verletzte Volks moral zur Anerkennung
bringt. Was aber in unſern jetzigen Zuſtänden die Furcht vor
der Strafe des Geſetzes und dem Richtſchwert der Obrigkeit
bewirkt, das leiſtet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen
Arme jener Volksjuſtiz. Es wäre alſo ſehr verkehrt, ſich jenen
Zuſtand in der Weiſe auszumalen, als ob Scenen der Volks-
juſtiz und einer gewaltſamen Privatſelbſthülfe an der Tages-
ordnung geweſen ſeien. Wenn die Furcht vor der Strafe von
dem Verbrechen, die Ausſicht auf die Erfolgloſigkeit des Wider-
ſtandes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, ſo that ſie
das dort ſowohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem

26) In dieſem Syſtem iſt ebenſowohl das Gegentheil möglich, wie dort.
In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig iſt, vermag der Arm
der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Geſetzes geſprochen.
Das Jahr 1848 hat uns ja Beiſpiele die Menge gegeben. An der überlegenen
Widerſtandskraft und der Erregtheit der Maſſe kann im wohlorganiſirten
Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger ſcheitern, wie im Syſtem
der Selbſthülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher
zeigen, daß der ganze römiſche Prozeß auf die Vorausſetzung gebaut iſt, von
der wir hier ausgehen. Der römiſche Richter exekutirt nicht, ſondern überläßt
dies dem Sieger, ſupponirt alſo, daß die phyſiſchen Mittel des
Rechts der phyſiſchen Widerſtandskraft des Unrechts über-
legen ſind
.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0138" n="120"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des römi&#x017F;chen Rechts.</fw><lb/><hi rendition="#g">das Uebergewicht der phy&#x017F;i&#x017F;chen Kraft warf &#x017F;ich</hi><lb/>
wie heutzutage im Sy&#x017F;tem der öffentlichen Rechtspflege <note place="foot" n="26)">In die&#x017F;em Sy&#x017F;tem i&#x017F;t eben&#x017F;owohl das Gegentheil möglich, wie dort.<lb/>
In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig i&#x017F;t, vermag der Arm<lb/>
der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Ge&#x017F;etzes ge&#x017F;prochen.<lb/>
Das Jahr 1848 hat uns ja Bei&#x017F;piele die Menge gegeben. An der überlegenen<lb/>
Wider&#x017F;tandskraft und der Erregtheit der Ma&#x017F;&#x017F;e kann im wohlorgani&#x017F;irten<lb/>
Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger &#x017F;cheitern, wie im Sy&#x017F;tem<lb/>
der Selb&#x017F;thülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher<lb/>
zeigen, daß der ganze römi&#x017F;che Prozeß auf die Voraus&#x017F;etzung gebaut i&#x017F;t, von<lb/>
der wir hier ausgehen. Der römi&#x017F;che Richter exekutirt nicht, &#x017F;ondern überläßt<lb/>
dies dem Sieger, &#x017F;upponirt al&#x017F;o, daß <hi rendition="#g">die phy&#x017F;i&#x017F;chen Mittel des<lb/>
Rechts der phy&#x017F;i&#x017F;chen Wider&#x017F;tandskraft des Unrechts über-<lb/>
legen &#x017F;ind</hi>.</note> regel-<lb/>
mäßig <hi rendition="#g">auf Seiten de&#x017F;&#x017F;en, der Recht hatte</hi>. Im Rechts-<lb/>
gefühl liegt einmal der Trieb &#x017F;ich zu reali&#x017F;iren, und eine Ver-<lb/>
letzung de&#x017F;&#x017F;elben, treffe &#x017F;ie nun zunäch&#x017F;t auch nur den Einzelnen,<lb/>
wird nicht bloß in ihm, &#x017F;ondern in der Ge&#x017F;ammtheit jenen Trieb<lb/>
in Bewegung &#x017F;etzen. Findet er kein verfa&#x017F;&#x017F;ungsmäßiges Organ<lb/>
zu &#x017F;einer Reali&#x017F;irung vor, &#x017F;o wird er &#x017F;ie &#x017F;ich in unmittelbarer<lb/>
Wei&#x017F;e zu ver&#x017F;chaffen &#x017F;uchen. Möge kein Richter da &#x017F;ein, der<lb/>
den Verbrecher zur Rechen&#x017F;chaft zieht und &#x017F;traft, letzteren ereilt<lb/>
dennoch die Strafe und vielleicht &#x017F;icherer und ra&#x017F;cher, als bei<lb/>
der ausgebildet&#x017F;ten Organi&#x017F;ation der Strafrechtspflege; es i&#x017F;t<lb/>
die Volks <hi rendition="#g">ju&#x017F;tiz</hi>, die die verletzte Volks <hi rendition="#g">moral</hi> zur Anerkennung<lb/>
bringt. Was aber in un&#x017F;ern jetzigen Zu&#x017F;tänden die Furcht vor<lb/>
der Strafe des Ge&#x017F;etzes und dem Richt&#x017F;chwert der Obrigkeit<lb/>
bewirkt, das lei&#x017F;tet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen<lb/>
Arme jener Volksju&#x017F;tiz. Es wäre al&#x017F;o &#x017F;ehr verkehrt, &#x017F;ich jenen<lb/>
Zu&#x017F;tand in der Wei&#x017F;e auszumalen, als ob Scenen der Volks-<lb/>
ju&#x017F;tiz und einer gewalt&#x017F;amen Privat&#x017F;elb&#x017F;thülfe an der Tages-<lb/>
ordnung gewe&#x017F;en &#x017F;eien. Wenn die Furcht vor der Strafe von<lb/>
dem Verbrechen, die Aus&#x017F;icht auf die Erfolglo&#x017F;igkeit des Wider-<lb/>
&#x017F;tandes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, &#x017F;o that &#x017F;ie<lb/>
das dort &#x017F;owohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0138] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. das Uebergewicht der phyſiſchen Kraft warf ſich wie heutzutage im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege 26) regel- mäßig auf Seiten deſſen, der Recht hatte. Im Rechts- gefühl liegt einmal der Trieb ſich zu realiſiren, und eine Ver- letzung deſſelben, treffe ſie nun zunächſt auch nur den Einzelnen, wird nicht bloß in ihm, ſondern in der Geſammtheit jenen Trieb in Bewegung ſetzen. Findet er kein verfaſſungsmäßiges Organ zu ſeiner Realiſirung vor, ſo wird er ſie ſich in unmittelbarer Weiſe zu verſchaffen ſuchen. Möge kein Richter da ſein, der den Verbrecher zur Rechenſchaft zieht und ſtraft, letzteren ereilt dennoch die Strafe und vielleicht ſicherer und raſcher, als bei der ausgebildetſten Organiſation der Strafrechtspflege; es iſt die Volks juſtiz, die die verletzte Volks moral zur Anerkennung bringt. Was aber in unſern jetzigen Zuſtänden die Furcht vor der Strafe des Geſetzes und dem Richtſchwert der Obrigkeit bewirkt, das leiſtet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen Arme jener Volksjuſtiz. Es wäre alſo ſehr verkehrt, ſich jenen Zuſtand in der Weiſe auszumalen, als ob Scenen der Volks- juſtiz und einer gewaltſamen Privatſelbſthülfe an der Tages- ordnung geweſen ſeien. Wenn die Furcht vor der Strafe von dem Verbrechen, die Ausſicht auf die Erfolgloſigkeit des Wider- ſtandes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, ſo that ſie das dort ſowohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem 26) In dieſem Syſtem iſt ebenſowohl das Gegentheil möglich, wie dort. In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig iſt, vermag der Arm der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Geſetzes geſprochen. Das Jahr 1848 hat uns ja Beiſpiele die Menge gegeben. An der überlegenen Widerſtandskraft und der Erregtheit der Maſſe kann im wohlorganiſirten Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger ſcheitern, wie im Syſtem der Selbſthülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher zeigen, daß der ganze römiſche Prozeß auf die Vorausſetzung gebaut iſt, von der wir hier ausgehen. Der römiſche Richter exekutirt nicht, ſondern überläßt dies dem Sieger, ſupponirt alſo, daß die phyſiſchen Mittel des Rechts der phyſiſchen Widerſtandskraft des Unrechts über- legen ſind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/138
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/138>, abgerufen am 24.11.2024.