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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
übrigen Fällen aber hob man sie nach der bekannten Weise der
Römer nicht geradezu auf, sondern ließ sie in abgeschwächter
Gestalt, als manus injectio pura, fortbestehen. Dem Schuld-
ner ward nämlich erlaubt, wie man es ausdrückte, manum sibi
depellere
d. h. selbst die Rolle des vindex zu übernehmen, die
Statihaftigkeit der manus injectio in eigner Person zu bestrei-
ten. Die manus injectio war damit Einleitungsform eines
Prozesses geworden, der sich nur dadurch auszeichnete, daß der
Schuldner im Fall seines Unterliegens den doppelten Betrag der
Schuld zu entrichten hatte, eine Folge, die ihn daran mahnte,
daß mit dem Recht auch die Strafe des alten vindex auf ihn
übertragen war. 64)

In dieser jüngsten Gestalt der manus injectio ist nun von
ihrer ursprünglichen Bedeutung nichts übrig geblieben, sie hat
sich hier völlig der Idee gefügt, daß die Befugniß zur Exekution
von der Oberhoheit des Staats abgeleitet werden müsse. Nichts
ist aber verkehrter, als diese Idee in die Zeit der XII Tafeln zu
verlegen; der Geist des ältern Rechts weist sie überall zurück.
Die manus injectio war nichts, als die solenne Selbsthülfe,
bedingt durch eine gewisse Evidenz des geltend zu machenden
Anspruches und ausgestattet mit einer besonders energischen
Wirkung. In dieser Form und Anwendung erscheint die Selbst-
hülfe im ältern Recht nicht bloß als erlaubt, sondern als un-
entbehrliche Voraussetzung, als vis agens der ganzen Rechts-
ordnung.

Dadurch unterscheidet sich nun von ihr die formlose Selbst-
hülfe, die wir jetzt kennen lernen wollen. Auch sie gewährt in
ihrer neusten Gestalt kaum einen Schatten von dem, was sie

64) Bezeichnet wird diese Folge mit dem Ausdruck: lis erescit in du-
plum,
und sie ward später auch in Fällen eingeführt, bei denen früher nie
eine manus injectio Statt gefunden hatte, so wie sie umgekehrt in Fällen,
wo letztere früher bestanden hatte, später weggelassen ward. Im allgemeinen
darf man aber den Zusammenhang zwischen der manus injectio und jener
Strafe des Läugnens nicht außer Acht lassen.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
übrigen Fällen aber hob man ſie nach der bekannten Weiſe der
Römer nicht geradezu auf, ſondern ließ ſie in abgeſchwächter
Geſtalt, als manus injectio pura, fortbeſtehen. Dem Schuld-
ner ward nämlich erlaubt, wie man es ausdrückte, manum sibi
depellere
d. h. ſelbſt die Rolle des vindex zu übernehmen, die
Statihaftigkeit der manus injectio in eigner Perſon zu beſtrei-
ten. Die manus injectio war damit Einleitungsform eines
Prozeſſes geworden, der ſich nur dadurch auszeichnete, daß der
Schuldner im Fall ſeines Unterliegens den doppelten Betrag der
Schuld zu entrichten hatte, eine Folge, die ihn daran mahnte,
daß mit dem Recht auch die Strafe des alten vindex auf ihn
übertragen war. 64)

In dieſer jüngſten Geſtalt der manus injectio iſt nun von
ihrer urſprünglichen Bedeutung nichts übrig geblieben, ſie hat
ſich hier völlig der Idee gefügt, daß die Befugniß zur Exekution
von der Oberhoheit des Staats abgeleitet werden müſſe. Nichts
iſt aber verkehrter, als dieſe Idee in die Zeit der XII Tafeln zu
verlegen; der Geiſt des ältern Rechts weiſt ſie überall zurück.
Die manus injectio war nichts, als die ſolenne Selbſthülfe,
bedingt durch eine gewiſſe Evidenz des geltend zu machenden
Anſpruches und ausgeſtattet mit einer beſonders energiſchen
Wirkung. In dieſer Form und Anwendung erſcheint die Selbſt-
hülfe im ältern Recht nicht bloß als erlaubt, ſondern als un-
entbehrliche Vorausſetzung, als vis agens der ganzen Rechts-
ordnung.

Dadurch unterſcheidet ſich nun von ihr die formloſe Selbſt-
hülfe, die wir jetzt kennen lernen wollen. Auch ſie gewährt in
ihrer neuſten Geſtalt kaum einen Schatten von dem, was ſie

64) Bezeichnet wird dieſe Folge mit dem Ausdruck: lis erescit in du-
plum,
und ſie ward ſpäter auch in Fällen eingeführt, bei denen früher nie
eine manus injectio Statt gefunden hatte, ſo wie ſie umgekehrt in Fällen,
wo letztere früher beſtanden hatte, ſpäter weggelaſſen ward. Im allgemeinen
darf man aber den Zuſammenhang zwiſchen der manus injectio und jener
Strafe des Läugnens nicht außer Acht laſſen.
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[150/0168] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. übrigen Fällen aber hob man ſie nach der bekannten Weiſe der Römer nicht geradezu auf, ſondern ließ ſie in abgeſchwächter Geſtalt, als manus injectio pura, fortbeſtehen. Dem Schuld- ner ward nämlich erlaubt, wie man es ausdrückte, manum sibi depellere d. h. ſelbſt die Rolle des vindex zu übernehmen, die Statihaftigkeit der manus injectio in eigner Perſon zu beſtrei- ten. Die manus injectio war damit Einleitungsform eines Prozeſſes geworden, der ſich nur dadurch auszeichnete, daß der Schuldner im Fall ſeines Unterliegens den doppelten Betrag der Schuld zu entrichten hatte, eine Folge, die ihn daran mahnte, daß mit dem Recht auch die Strafe des alten vindex auf ihn übertragen war. 64) In dieſer jüngſten Geſtalt der manus injectio iſt nun von ihrer urſprünglichen Bedeutung nichts übrig geblieben, ſie hat ſich hier völlig der Idee gefügt, daß die Befugniß zur Exekution von der Oberhoheit des Staats abgeleitet werden müſſe. Nichts iſt aber verkehrter, als dieſe Idee in die Zeit der XII Tafeln zu verlegen; der Geiſt des ältern Rechts weiſt ſie überall zurück. Die manus injectio war nichts, als die ſolenne Selbſthülfe, bedingt durch eine gewiſſe Evidenz des geltend zu machenden Anſpruches und ausgeſtattet mit einer beſonders energiſchen Wirkung. In dieſer Form und Anwendung erſcheint die Selbſt- hülfe im ältern Recht nicht bloß als erlaubt, ſondern als un- entbehrliche Vorausſetzung, als vis agens der ganzen Rechts- ordnung. Dadurch unterſcheidet ſich nun von ihr die formloſe Selbſt- hülfe, die wir jetzt kennen lernen wollen. Auch ſie gewährt in ihrer neuſten Geſtalt kaum einen Schatten von dem, was ſie 64) Bezeichnet wird dieſe Folge mit dem Ausdruck: lis erescit in du- plum, und ſie ward ſpäter auch in Fällen eingeführt, bei denen früher nie eine manus injectio Statt gefunden hatte, ſo wie ſie umgekehrt in Fällen, wo letztere früher beſtanden hatte, ſpäter weggelaſſen ward. Im allgemeinen darf man aber den Zuſammenhang zwiſchen der manus injectio und jener Strafe des Läugnens nicht außer Acht laſſen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/168>, abgerufen am 23.11.2024.