Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

2. Der Staat -- allgemeine Betrachtung. §. 13.
eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an-
dere Festigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; sie dient
als Surrogat des Staats, und nimmt als solches bedeutende
politische Elemente in sich auf.

Im Laufe der Zeit verwandelt sich die durch das staatliche
Prinzip bestimmte Familie in einen durch das Familienprinzip
bestimmten Staat. Mehre Familien vereinigen sich, eine Fa-
milie erweitert sich zu einem Geschlecht oder Stamm, der seiner-
seits sich wieder in mehre Zweige, Geschlechter und Familien
spaltet. So entsteht der Geschlechterstaat, ein Geschiebe von
kleinern oder größern compakten Einheiten, die ursprünglich die
Verwandschaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung dieses
Geschlechterstaates ist ungleich loser, als die jener kleineren
Kreise in sich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der
Verfassung; sie sind Staaten im Kleinen, die sich zu einem
Staatenbund vereinigt haben.

Der Geschlechterstaat in seiner Jugendkraft bezeichnet nicht
bloß eine bestimmte Form staatlicher Verbindung, sondern eine
bestimmte Stufe der gesammten politischen und rechtlichen Ent-
wicklung. Einerseits gibt die politische Function der Familie ihr
auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Gestal-
tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer-
seits aber influirt die privatrechtliche Natur dieses Verhältnisses
auf den Staat selbst und die ganze politische Gesinnungsweise.
Dies bewährt sich auch in der exclusiven Stellung des Staats
nach außen hin. Da nur derjenige politisch berechtigt ist, der
zu einem Geschlecht gehört, die Geschlechter also die Pforten des
Staats sind, so wird der Einlaß Fremder in den Staat sehr
erschwert; er setzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli-
tischen Interessen weit hinausreichende Verbindung eines Ge-
schlechts voraus.

Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats gebiet
ohne Aufnahme in die Geschlechter in einem irgend erheb-
lichen Maße Statt, so liegt in diesem Verhältniß der Keim

2. Der Staat — allgemeine Betrachtung. §. 13.
eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an-
dere Feſtigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; ſie dient
als Surrogat des Staats, und nimmt als ſolches bedeutende
politiſche Elemente in ſich auf.

Im Laufe der Zeit verwandelt ſich die durch das ſtaatliche
Prinzip beſtimmte Familie in einen durch das Familienprinzip
beſtimmten Staat. Mehre Familien vereinigen ſich, eine Fa-
milie erweitert ſich zu einem Geſchlecht oder Stamm, der ſeiner-
ſeits ſich wieder in mehre Zweige, Geſchlechter und Familien
ſpaltet. So entſteht der Geſchlechterſtaat, ein Geſchiebe von
kleinern oder größern compakten Einheiten, die urſprünglich die
Verwandſchaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung dieſes
Geſchlechterſtaates iſt ungleich loſer, als die jener kleineren
Kreiſe in ſich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der
Verfaſſung; ſie ſind Staaten im Kleinen, die ſich zu einem
Staatenbund vereinigt haben.

Der Geſchlechterſtaat in ſeiner Jugendkraft bezeichnet nicht
bloß eine beſtimmte Form ſtaatlicher Verbindung, ſondern eine
beſtimmte Stufe der geſammten politiſchen und rechtlichen Ent-
wicklung. Einerſeits gibt die politiſche Function der Familie ihr
auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Geſtal-
tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer-
ſeits aber influirt die privatrechtliche Natur dieſes Verhältniſſes
auf den Staat ſelbſt und die ganze politiſche Geſinnungsweiſe.
Dies bewährt ſich auch in der excluſiven Stellung des Staats
nach außen hin. Da nur derjenige politiſch berechtigt iſt, der
zu einem Geſchlecht gehört, die Geſchlechter alſo die Pforten des
Staats ſind, ſo wird der Einlaß Fremder in den Staat ſehr
erſchwert; er ſetzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli-
tiſchen Intereſſen weit hinausreichende Verbindung eines Ge-
ſchlechts voraus.

Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats gebiet
ohne Aufnahme in die Geſchlechter in einem irgend erheb-
lichen Maße Statt, ſo liegt in dieſem Verhältniß der Keim

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0183" n="165"/><fw place="top" type="header">2. Der Staat &#x2014; allgemeine Betrachtung. §. 13.</fw><lb/>
eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an-<lb/>
dere Fe&#x017F;tigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; &#x017F;ie dient<lb/>
als Surrogat des Staats, und nimmt als &#x017F;olches bedeutende<lb/>
politi&#x017F;che Elemente in &#x017F;ich auf.</p><lb/>
                <p>Im Laufe der Zeit verwandelt &#x017F;ich die durch das &#x017F;taatliche<lb/>
Prinzip be&#x017F;timmte Familie in einen durch das Familienprinzip<lb/>
be&#x017F;timmten Staat. Mehre Familien vereinigen &#x017F;ich, <hi rendition="#g">eine</hi> Fa-<lb/>
milie erweitert &#x017F;ich zu einem Ge&#x017F;chlecht oder Stamm, der &#x017F;einer-<lb/>
&#x017F;eits &#x017F;ich wieder in mehre Zweige, Ge&#x017F;chlechter und Familien<lb/>
&#x017F;paltet. So ent&#x017F;teht der Ge&#x017F;chlechter&#x017F;taat, ein Ge&#x017F;chiebe von<lb/>
kleinern oder größern compakten Einheiten, die ur&#x017F;prünglich die<lb/>
Verwand&#x017F;chaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung die&#x017F;es<lb/>
Ge&#x017F;chlechter&#x017F;taates i&#x017F;t ungleich lo&#x017F;er, als die jener kleineren<lb/>
Krei&#x017F;e in &#x017F;ich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung; &#x017F;ie &#x017F;ind Staaten im Kleinen, die &#x017F;ich zu einem<lb/>
Staatenbund vereinigt haben.</p><lb/>
                <p>Der Ge&#x017F;chlechter&#x017F;taat in &#x017F;einer Jugendkraft bezeichnet nicht<lb/>
bloß eine be&#x017F;timmte <hi rendition="#g">Form</hi> &#x017F;taatlicher Verbindung, &#x017F;ondern eine<lb/>
be&#x017F;timmte Stufe der ge&#x017F;ammten politi&#x017F;chen und rechtlichen Ent-<lb/>
wicklung. Einer&#x017F;eits gibt die politi&#x017F;che Function der Familie ihr<lb/>
auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Ge&#x017F;tal-<lb/>
tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer-<lb/>
&#x017F;eits aber influirt die privatrechtliche Natur die&#x017F;es Verhältni&#x017F;&#x017F;es<lb/>
auf den Staat &#x017F;elb&#x017F;t und die ganze politi&#x017F;che Ge&#x017F;innungswei&#x017F;e.<lb/>
Dies bewährt &#x017F;ich auch in der exclu&#x017F;iven Stellung des Staats<lb/>
nach außen hin. Da nur derjenige politi&#x017F;ch berechtigt i&#x017F;t, der<lb/>
zu einem Ge&#x017F;chlecht gehört, die Ge&#x017F;chlechter al&#x017F;o die Pforten des<lb/>
Staats &#x017F;ind, &#x017F;o wird der Einlaß Fremder in den Staat &#x017F;ehr<lb/>
er&#x017F;chwert; er &#x017F;etzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli-<lb/>
ti&#x017F;chen Intere&#x017F;&#x017F;en weit hinausreichende Verbindung eines Ge-<lb/>
&#x017F;chlechts voraus.</p><lb/>
                <p>Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats <hi rendition="#g">gebiet</hi><lb/>
ohne Aufnahme in die <hi rendition="#g">Ge&#x017F;chlechter</hi> in einem irgend erheb-<lb/>
lichen Maße Statt, &#x017F;o liegt in die&#x017F;em Verhältniß der Keim<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0183] 2. Der Staat — allgemeine Betrachtung. §. 13. eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an- dere Feſtigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; ſie dient als Surrogat des Staats, und nimmt als ſolches bedeutende politiſche Elemente in ſich auf. Im Laufe der Zeit verwandelt ſich die durch das ſtaatliche Prinzip beſtimmte Familie in einen durch das Familienprinzip beſtimmten Staat. Mehre Familien vereinigen ſich, eine Fa- milie erweitert ſich zu einem Geſchlecht oder Stamm, der ſeiner- ſeits ſich wieder in mehre Zweige, Geſchlechter und Familien ſpaltet. So entſteht der Geſchlechterſtaat, ein Geſchiebe von kleinern oder größern compakten Einheiten, die urſprünglich die Verwandſchaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung dieſes Geſchlechterſtaates iſt ungleich loſer, als die jener kleineren Kreiſe in ſich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der Verfaſſung; ſie ſind Staaten im Kleinen, die ſich zu einem Staatenbund vereinigt haben. Der Geſchlechterſtaat in ſeiner Jugendkraft bezeichnet nicht bloß eine beſtimmte Form ſtaatlicher Verbindung, ſondern eine beſtimmte Stufe der geſammten politiſchen und rechtlichen Ent- wicklung. Einerſeits gibt die politiſche Function der Familie ihr auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Geſtal- tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer- ſeits aber influirt die privatrechtliche Natur dieſes Verhältniſſes auf den Staat ſelbſt und die ganze politiſche Geſinnungsweiſe. Dies bewährt ſich auch in der excluſiven Stellung des Staats nach außen hin. Da nur derjenige politiſch berechtigt iſt, der zu einem Geſchlecht gehört, die Geſchlechter alſo die Pforten des Staats ſind, ſo wird der Einlaß Fremder in den Staat ſehr erſchwert; er ſetzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli- tiſchen Intereſſen weit hinausreichende Verbindung eines Ge- ſchlechts voraus. Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats gebiet ohne Aufnahme in die Geſchlechter in einem irgend erheb- lichen Maße Statt, ſo liegt in dieſem Verhältniß der Keim

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/183
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/183>, abgerufen am 23.11.2024.