Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.2. Der Staat -- Verhältniß zum subjektiven Prinzip. §. 15. höheren Mitteln? Das ist allerdings der Staat der Gegenwart,aber es ist nichts verkehrter, als diese Auffassung überall, wo der Staat in der Geschichte sich zeigt, zu supponiren; denn sie selbst sowohl wie der Staat, dem sie entspricht, ist das Werk eines langen historischen Prozesses. Uns erscheint diese Auf- fassung so natürlich, daß wir nur gar zu leicht in den Fehler verfallen, sie in die Vergangenheit zu übertragen, während doch letztere mit ihrem Staat völlig andere Ideen verband. So wie ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Sprachen von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus benannt sein kann, der Rö- mer sich, wenn er das lateinische Wort gebrauchte, den Gegen- stand von einer ganz andern Seite, in ganz anderer Weise dachte, als wir bei dem entsprechenden Ausdruck unserer Sprache, so ist es auch mit dem Staat und allen seinen Gewalten und Functionen der Fall. Civitas, res publica bezeichnet denselben Gegenstand, den wir Staat nennen, lex übersetzen wir mit Gesetz, judex mit Richter, poena mit Strafe u. s. w., und es erscheint uns unbedenklich, den ältesten römischen Staat, weil wir leges und judices in ihm antreffen, mit einer gesetzgeben- den und richterlichen Gewalt auszustatten. An diesen moder- nen Ausdrücken klebt aber die ganze Staatsanschauung unseres Jahrhunderts; unbewußt tragen wir mit jedem Wort etwas Falsches in den römischen Staat hinein und übersetzen ihn in unsere heutige Vorstellungsweise. Dieser Fehler ist es, den ich im folgenden unausgesetzt be- Jhering, Geist d. röm. Rechts. 13
2. Der Staat — Verhältniß zum ſubjektiven Prinzip. §. 15. höheren Mitteln? Das iſt allerdings der Staat der Gegenwart,aber es iſt nichts verkehrter, als dieſe Auffaſſung überall, wo der Staat in der Geſchichte ſich zeigt, zu ſupponiren; denn ſie ſelbſt ſowohl wie der Staat, dem ſie entſpricht, iſt das Werk eines langen hiſtoriſchen Prozeſſes. Uns erſcheint dieſe Auf- faſſung ſo natürlich, daß wir nur gar zu leicht in den Fehler verfallen, ſie in die Vergangenheit zu übertragen, während doch letztere mit ihrem Staat völlig andere Ideen verband. So wie ein und derſelbe Gegenſtand in verſchiedenen Sprachen von ſehr verſchiedenen Geſichtspunkten aus benannt ſein kann, der Rö- mer ſich, wenn er das lateiniſche Wort gebrauchte, den Gegen- ſtand von einer ganz andern Seite, in ganz anderer Weiſe dachte, als wir bei dem entſprechenden Ausdruck unſerer Sprache, ſo iſt es auch mit dem Staat und allen ſeinen Gewalten und Functionen der Fall. Civitas, res publica bezeichnet denſelben Gegenſtand, den wir Staat nennen, lex überſetzen wir mit Geſetz, judex mit Richter, poena mit Strafe u. ſ. w., und es erſcheint uns unbedenklich, den älteſten römiſchen Staat, weil wir leges und judices in ihm antreffen, mit einer geſetzgeben- den und richterlichen Gewalt auszuſtatten. An dieſen moder- nen Ausdrücken klebt aber die ganze Staatsanſchauung unſeres Jahrhunderts; unbewußt tragen wir mit jedem Wort etwas Falſches in den römiſchen Staat hinein und überſetzen ihn in unſere heutige Vorſtellungsweiſe. Dieſer Fehler iſt es, den ich im folgenden unausgeſetzt be- Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 13
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2. Der Staat — Verhältniß zum ſubjektiven Prinzip. §. 15.
höheren Mitteln? Das iſt allerdings der Staat der Gegenwart,
aber es iſt nichts verkehrter, als dieſe Auffaſſung überall, wo
der Staat in der Geſchichte ſich zeigt, zu ſupponiren; denn ſie
ſelbſt ſowohl wie der Staat, dem ſie entſpricht, iſt das Werk
eines langen hiſtoriſchen Prozeſſes. Uns erſcheint dieſe Auf-
faſſung ſo natürlich, daß wir nur gar zu leicht in den Fehler
verfallen, ſie in die Vergangenheit zu übertragen, während doch
letztere mit ihrem Staat völlig andere Ideen verband. So wie
ein und derſelbe Gegenſtand in verſchiedenen Sprachen von ſehr
verſchiedenen Geſichtspunkten aus benannt ſein kann, der Rö-
mer ſich, wenn er das lateiniſche Wort gebrauchte, den Gegen-
ſtand von einer ganz andern Seite, in ganz anderer Weiſe
dachte, als wir bei dem entſprechenden Ausdruck unſerer Sprache,
ſo iſt es auch mit dem Staat und allen ſeinen Gewalten und
Functionen der Fall. Civitas, res publica bezeichnet denſelben
Gegenſtand, den wir Staat nennen, lex überſetzen wir mit
Geſetz, judex mit Richter, poena mit Strafe u. ſ. w., und es
erſcheint uns unbedenklich, den älteſten römiſchen Staat, weil
wir leges und judices in ihm antreffen, mit einer geſetzgeben-
den und richterlichen Gewalt auszuſtatten. An dieſen moder-
nen Ausdrücken klebt aber die ganze Staatsanſchauung unſeres
Jahrhunderts; unbewußt tragen wir mit jedem Wort etwas
Falſches in den römiſchen Staat hinein und überſetzen ihn in
unſere heutige Vorſtellungsweiſe.
Dieſer Fehler iſt es, den ich im folgenden unausgeſetzt be-
kämpfen werde. Ich hoffe zeigen zu können, daß der älteſte
römiſche Staat auf ganz andern Ideen beruhte, als die wir mit
dem Staat verbinden, daß die Römer unter res publica, jus
publicum, judex, poena publica u. ſ. w. ſich etwas ganz an-
ders dachten, als wir unter den entſprechenden Ausdrücken un-
ſerer Sprache, ſich dies alles nämlich dachten vom Standpunkt
des ſubjektiven Prinzips aus. Dieſes Prinzip haben wir oben
§. 10—12 als den Ausgangspunkt der ganzen römiſchen Rechts-
anſchauung kennen lernen, von dieſem bereits gewonnenen
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