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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Jus 114) ist das Band, das Bindende, die Rechtsnorm und
zwar jus im objektiven Sinn das, welches alle bindet, allen
eine Pflicht auflegt, beziehungsweise ein Anrecht gewährt, jus
im subjektiven Sinn das bloß einen Einzelnen bindet und da-
durch einem andern ein Recht gewährt. Dieser letztere hat durch
die zwischen ihnen beiden vereinbarte lex eine auf sie beschränkte
Rechtsnorm des Inhalts, daß der andere dies und das leisten
solle, ins Leben gerufen, und da die Handhabung, Vollzie-
hung derselben ihm zusteht (jus ei est), so ist das Recht sein
(jus ejus est). Die Normen, die die Gesammtheit sich gesetzt
hat oder stillschweigend anerkennt, und über deren Befolgung
sie wacht, verhalten sich zu ihr in derselben Weise, d. h. sie
erscheinen subjektiv als Berechtigung.

Wir gehen jetzt zu einem Punkt von hoher Wichtigkeit über,

114) Von der Sanskrit-Wurzel ju "verbinden", von der auch jugum,
das deutsche Joch, jumentum, jungere und eine Menge anderer Wörter in
verschiedenen Sprachen stammt. S. des weitern Pott a. a. O. S. 213.
Aus dieser Wurzel erklärt Pott auch das seltsame Zusammentreffen der zwei
Bedeutungen von jus, nämlich Recht und Brühe. Im Lettischen findet sich
nach seiner Angabe das Wort jaut d. h. Mehl mit Wasser einrühren, ver-
binden
. Unser deutsches "Jauche" ist vielleicht dasselbe Wort mit jus im
Sinn von Brühe. -- Interessant ist die Verschiedenheit der römischen und
griechischen Bezeichnung des Rechtsbegriffs. Beide Sprachen bedienen sich
zu dem Zweck verschiedener Wurzeln, die übrigens in jeder derselben vorkom-
men, die griechische der Wurzel dic (dike), zeigen, weisen, von der in der
lateinischen Sprache dicere, digitus u. s. w. stammt, letztere der Wurzel
ju, von der in der griechischen Sprache zugon, jugum. Das griechische
Wort entspricht unserm deutschen "Weise" und hat, wie letzteres, die dop-
pelte Bedeutung von "Art und Weise" und die von Norm, Regel (wie im
Deutschen z. B. die Gesang weise). Dikaios ist seiner ursprünglichen Be-
deutung nach der, der die Art befolgt, der Art-ige. Das beide Bedeutungen
vermittelnde Moment ist das des Musters, Vorbildes; aus dem Vorbilde, der
Präcedenz wird Brauch, Sitte, Recht. Die griechische Sprache faßt also
bei ihrer Bezeichnung des Rechtsbegriffs das Moment des Hergebrachten,
Ueblichen ins Auge, die Entstehung aus der Gewohnheit, die lateinische
Sprache die Wirkung, nämlich die verbindende Kraft des Rechts. Ich
brauche nicht hinzuzufügen, welche Auffassung die höhere ist.
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Jus 114) iſt das Band, das Bindende, die Rechtsnorm und
zwar jus im objektiven Sinn das, welches alle bindet, allen
eine Pflicht auflegt, beziehungsweiſe ein Anrecht gewährt, jus
im ſubjektiven Sinn das bloß einen Einzelnen bindet und da-
durch einem andern ein Recht gewährt. Dieſer letztere hat durch
die zwiſchen ihnen beiden vereinbarte lex eine auf ſie beſchränkte
Rechtsnorm des Inhalts, daß der andere dies und das leiſten
ſolle, ins Leben gerufen, und da die Handhabung, Vollzie-
hung derſelben ihm zuſteht (jus ei est), ſo iſt das Recht ſein
(jus ejus est). Die Normen, die die Geſammtheit ſich geſetzt
hat oder ſtillſchweigend anerkennt, und über deren Befolgung
ſie wacht, verhalten ſich zu ihr in derſelben Weiſe, d. h. ſie
erſcheinen ſubjektiv als Berechtigung.

Wir gehen jetzt zu einem Punkt von hoher Wichtigkeit über,

114) Von der Sanskrit-Wurzel ju „verbinden“, von der auch jugum,
das deutſche Joch, jumentum, jungere und eine Menge anderer Wörter in
verſchiedenen Sprachen ſtammt. S. des weitern Pott a. a. O. S. 213.
Aus dieſer Wurzel erklärt Pott auch das ſeltſame Zuſammentreffen der zwei
Bedeutungen von jus, nämlich Recht und Brühe. Im Lettiſchen findet ſich
nach ſeiner Angabe das Wort jaut d. h. Mehl mit Waſſer einrühren, ver-
binden
. Unſer deutſches „Jauche“ iſt vielleicht daſſelbe Wort mit jus im
Sinn von Brühe. — Intereſſant iſt die Verſchiedenheit der römiſchen und
griechiſchen Bezeichnung des Rechtsbegriffs. Beide Sprachen bedienen ſich
zu dem Zweck verſchiedener Wurzeln, die übrigens in jeder derſelben vorkom-
men, die griechiſche der Wurzel dic (δίκη), zeigen, weiſen, von der in der
lateiniſchen Sprache dicere, digitus u. ſ. w. ſtammt, letztere der Wurzel
ju, von der in der griechiſchen Sprache ζυγὸν, jugum. Das griechiſche
Wort entſpricht unſerm deutſchen „Weiſe“ und hat, wie letzteres, die dop-
pelte Bedeutung von „Art und Weiſe“ und die von Norm, Regel (wie im
Deutſchen z. B. die Geſang weiſe). Δίκαιος iſt ſeiner urſprünglichen Be-
deutung nach der, der die Art befolgt, der Art-ige. Das beide Bedeutungen
vermittelnde Moment iſt das des Muſters, Vorbildes; aus dem Vorbilde, der
Präcedenz wird Brauch, Sitte, Recht. Die griechiſche Sprache faßt alſo
bei ihrer Bezeichnung des Rechtsbegriffs das Moment des Hergebrachten,
Ueblichen ins Auge, die Entſtehung aus der Gewohnheit, die lateiniſche
Sprache die Wirkung, nämlich die verbindende Kraft des Rechts. Ich
brauche nicht hinzuzufügen, welche Auffaſſung die höhere iſt.
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[204/0222] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. Jus 114) iſt das Band, das Bindende, die Rechtsnorm und zwar jus im objektiven Sinn das, welches alle bindet, allen eine Pflicht auflegt, beziehungsweiſe ein Anrecht gewährt, jus im ſubjektiven Sinn das bloß einen Einzelnen bindet und da- durch einem andern ein Recht gewährt. Dieſer letztere hat durch die zwiſchen ihnen beiden vereinbarte lex eine auf ſie beſchränkte Rechtsnorm des Inhalts, daß der andere dies und das leiſten ſolle, ins Leben gerufen, und da die Handhabung, Vollzie- hung derſelben ihm zuſteht (jus ei est), ſo iſt das Recht ſein (jus ejus est). Die Normen, die die Geſammtheit ſich geſetzt hat oder ſtillſchweigend anerkennt, und über deren Befolgung ſie wacht, verhalten ſich zu ihr in derſelben Weiſe, d. h. ſie erſcheinen ſubjektiv als Berechtigung. Wir gehen jetzt zu einem Punkt von hoher Wichtigkeit über, 114) Von der Sanskrit-Wurzel ju „verbinden“, von der auch jugum, das deutſche Joch, jumentum, jungere und eine Menge anderer Wörter in verſchiedenen Sprachen ſtammt. S. des weitern Pott a. a. O. S. 213. Aus dieſer Wurzel erklärt Pott auch das ſeltſame Zuſammentreffen der zwei Bedeutungen von jus, nämlich Recht und Brühe. Im Lettiſchen findet ſich nach ſeiner Angabe das Wort jaut d. h. Mehl mit Waſſer einrühren, ver- binden. Unſer deutſches „Jauche“ iſt vielleicht daſſelbe Wort mit jus im Sinn von Brühe. — Intereſſant iſt die Verſchiedenheit der römiſchen und griechiſchen Bezeichnung des Rechtsbegriffs. Beide Sprachen bedienen ſich zu dem Zweck verſchiedener Wurzeln, die übrigens in jeder derſelben vorkom- men, die griechiſche der Wurzel dic (δίκη), zeigen, weiſen, von der in der lateiniſchen Sprache dicere, digitus u. ſ. w. ſtammt, letztere der Wurzel ju, von der in der griechiſchen Sprache ζυγὸν, jugum. Das griechiſche Wort entſpricht unſerm deutſchen „Weiſe“ und hat, wie letzteres, die dop- pelte Bedeutung von „Art und Weiſe“ und die von Norm, Regel (wie im Deutſchen z. B. die Geſang weiſe). Δίκαιος iſt ſeiner urſprünglichen Be- deutung nach der, der die Art befolgt, der Art-ige. Das beide Bedeutungen vermittelnde Moment iſt das des Muſters, Vorbildes; aus dem Vorbilde, der Präcedenz wird Brauch, Sitte, Recht. Die griechiſche Sprache faßt alſo bei ihrer Bezeichnung des Rechtsbegriffs das Moment des Hergebrachten, Ueblichen ins Auge, die Entſtehung aus der Gewohnheit, die lateiniſche Sprache die Wirkung, nämlich die verbindende Kraft des Rechts. Ich brauche nicht hinzuzufügen, welche Auffaſſung die höhere iſt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/222>, abgerufen am 25.11.2024.