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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Das Wesen des römischen Geistes. §. 20.
Recht fertig da steht. Aber können wir uns die Vorgeschichte
in anderer Weise ausmalen? Wenn drei Völker mit verschiede-
nen Einrichtungen, Sitten und Rechtsansichten sich zu einem
Staat zusammenthun, wenn schließlich nur ein einiges Recht
übrig bleibt, an dem keine Spuren nationalen Gegensatzes er-
kennbar sind, so muß nothwendigerweise der Widerspruch aus-
geglichen, d. h. also das Eine oder Andere geopfert worden sein.
Dieser Läuterungsprozeß, bei dem die Schlacken ausgeschieden
wurden, und nur das Kernige zurückblieb, erforderte keine ge-
waltsamen Mittel. Wo Starkes und Schwaches sich im Leben
zum freien Kampf begegnen, verleiht das innere Uebergewicht,
das jenem inne wohnt, von selbst den Sieg.

Drücken wir diesen Vorgang, bei dem die Stammesver-
schiedenheiten im Interesse des Staats überwunden werden,
dahin aus, daß das Staats- und Rechts-Prinzip hier das der
Nationalität überwältigt, so haben wir damit bereits für das
erste Auftreten Roms den Satz gewonnen, der auch die spätere
Bedeutung Roms, dessen eigenthümliche universalhistorische
Stellung und Aufgabe bezeichnet. An keinen Namen knüpft sich
so, wie an den Roms, der Gedanke eines Confliktes zwischen
dem Nationalitäts- und dem abstrakten Staats- und Rechts-
Prinzip oder, wenn man dabei auch die kirchliche Bedeutung
des modernen Roms mit ins Auge fassen darf, der Gedanke des
Gegensatzes der Nationalität und allgemeiner, supranationaler
Tendenzen. Die geistige Substanz, die Rom in sich birgt, ist
ein Scheidewasser, das, sowie es mit dem lebendigen Organis-
mus einer Nationalität in Berührung tritt, ihn schmerzhaft er-
regt, ja wohl gar zersetzt und auflöst. Mit der eignen nationa-
len Selbstüberwindung beginnt die Geschichte Roms, ihr höchster
Glanzpunkt zeigt uns den römischen Staat, stehend an der
Gränzscheide der antiken und modernen Welt, zu seinen Füßen,
zermalmt und zerrieben die Völker der damaligen Zeit. Nach
dem Sturz dieser politischen Weltherrschaft erhebt sich auf der-
selben Stätte die Weltherrschaft der Kirche, eine Herrschaft des

Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
Recht fertig da ſteht. Aber können wir uns die Vorgeſchichte
in anderer Weiſe ausmalen? Wenn drei Völker mit verſchiede-
nen Einrichtungen, Sitten und Rechtsanſichten ſich zu einem
Staat zuſammenthun, wenn ſchließlich nur ein einiges Recht
übrig bleibt, an dem keine Spuren nationalen Gegenſatzes er-
kennbar ſind, ſo muß nothwendigerweiſe der Widerſpruch aus-
geglichen, d. h. alſo das Eine oder Andere geopfert worden ſein.
Dieſer Läuterungsprozeß, bei dem die Schlacken ausgeſchieden
wurden, und nur das Kernige zurückblieb, erforderte keine ge-
waltſamen Mittel. Wo Starkes und Schwaches ſich im Leben
zum freien Kampf begegnen, verleiht das innere Uebergewicht,
das jenem inne wohnt, von ſelbſt den Sieg.

Drücken wir dieſen Vorgang, bei dem die Stammesver-
ſchiedenheiten im Intereſſe des Staats überwunden werden,
dahin aus, daß das Staats- und Rechts-Prinzip hier das der
Nationalität überwältigt, ſo haben wir damit bereits für das
erſte Auftreten Roms den Satz gewonnen, der auch die ſpätere
Bedeutung Roms, deſſen eigenthümliche univerſalhiſtoriſche
Stellung und Aufgabe bezeichnet. An keinen Namen knüpft ſich
ſo, wie an den Roms, der Gedanke eines Confliktes zwiſchen
dem Nationalitäts- und dem abſtrakten Staats- und Rechts-
Prinzip oder, wenn man dabei auch die kirchliche Bedeutung
des modernen Roms mit ins Auge faſſen darf, der Gedanke des
Gegenſatzes der Nationalität und allgemeiner, ſupranationaler
Tendenzen. Die geiſtige Subſtanz, die Rom in ſich birgt, iſt
ein Scheidewaſſer, das, ſowie es mit dem lebendigen Organis-
mus einer Nationalität in Berührung tritt, ihn ſchmerzhaft er-
regt, ja wohl gar zerſetzt und auflöſt. Mit der eignen nationa-
len Selbſtüberwindung beginnt die Geſchichte Roms, ihr höchſter
Glanzpunkt zeigt uns den römiſchen Staat, ſtehend an der
Gränzſcheide der antiken und modernen Welt, zu ſeinen Füßen,
zermalmt und zerrieben die Völker der damaligen Zeit. Nach
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[287/0305] Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20. Recht fertig da ſteht. Aber können wir uns die Vorgeſchichte in anderer Weiſe ausmalen? Wenn drei Völker mit verſchiede- nen Einrichtungen, Sitten und Rechtsanſichten ſich zu einem Staat zuſammenthun, wenn ſchließlich nur ein einiges Recht übrig bleibt, an dem keine Spuren nationalen Gegenſatzes er- kennbar ſind, ſo muß nothwendigerweiſe der Widerſpruch aus- geglichen, d. h. alſo das Eine oder Andere geopfert worden ſein. Dieſer Läuterungsprozeß, bei dem die Schlacken ausgeſchieden wurden, und nur das Kernige zurückblieb, erforderte keine ge- waltſamen Mittel. Wo Starkes und Schwaches ſich im Leben zum freien Kampf begegnen, verleiht das innere Uebergewicht, das jenem inne wohnt, von ſelbſt den Sieg. Drücken wir dieſen Vorgang, bei dem die Stammesver- ſchiedenheiten im Intereſſe des Staats überwunden werden, dahin aus, daß das Staats- und Rechts-Prinzip hier das der Nationalität überwältigt, ſo haben wir damit bereits für das erſte Auftreten Roms den Satz gewonnen, der auch die ſpätere Bedeutung Roms, deſſen eigenthümliche univerſalhiſtoriſche Stellung und Aufgabe bezeichnet. An keinen Namen knüpft ſich ſo, wie an den Roms, der Gedanke eines Confliktes zwiſchen dem Nationalitäts- und dem abſtrakten Staats- und Rechts- Prinzip oder, wenn man dabei auch die kirchliche Bedeutung des modernen Roms mit ins Auge faſſen darf, der Gedanke des Gegenſatzes der Nationalität und allgemeiner, ſupranationaler Tendenzen. Die geiſtige Subſtanz, die Rom in ſich birgt, iſt ein Scheidewaſſer, das, ſowie es mit dem lebendigen Organis- mus einer Nationalität in Berührung tritt, ihn ſchmerzhaft er- regt, ja wohl gar zerſetzt und auflöſt. Mit der eignen nationa- len Selbſtüberwindung beginnt die Geſchichte Roms, ihr höchſter Glanzpunkt zeigt uns den römiſchen Staat, ſtehend an der Gränzſcheide der antiken und modernen Welt, zu ſeinen Füßen, zermalmt und zerrieben die Völker der damaligen Zeit. Nach dem Sturz dieſer politiſchen Weltherrſchaft erhebt ſich auf der- ſelben Stätte die Weltherrſchaft der Kirche, eine Herrſchaft des

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/305>, abgerufen am 22.11.2024.