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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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1. Das Wesen des römischen Geistes. §. 20.
seiner durchaus praktischen Richtung mehr, als ein anderer die
Supposition eines bewußten, absichtlichen Thuns -- aber die
Hauptrolle spielt doch dabei der unvergleichliche nationale In-
stinkt. Was ist dieser Instinkt, ist er eine Naturanlage, die sich
nicht weiter begründen läßt, eine primäre Eigenschaft des römi-
schen Geistes? Ich erblicke in ihm nur die Folge jener Richtung
auf praktische Zwecke, jener zur zweiten Natur gewordenen Ge-
wohnheit der Römer, ihre ganze geistige und moralische Kraft
im Dienst der Selbstsucht zu verwenden. Die Römer können,
möchte ich behaupten, nichts zweckwidriges thun; bewußt oder
unbewußt betrachten sie alles unter dem Gesichtspunkt der Zweck-
mäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Absicht und Bewußt-
sein das Schöne finden, weil ihr ganzes Wesen von der Idee
des Schönen durchdrungen ist, so treffen die Römer mechanisch
das Zweckmäßige.

Die Idee der Zweckmäßigkeit also ist das Prisma römischer
Anschauung, und den schlagendsten Beweis dafür bietet uns die
römische Götterwelt. 225) Die Römer konnten nur anerkennen
und ehren, was einen Zweck hatte; Götter, die ohne bestimm-
ten Beruf bloß sich selbst gelebt hätten, wären ihnen als Müßig-
gänger erschienen. Darum hatte jeder römische Gott seinen
praktischen Wirkungskreis, so zu sagen, seinen Posten, für den
und von dem er lebte. Das Prinzip der Theilung der Arbeit
war in der römischen Götterlehre ins Lächerliche getrieben, die
römische Erfindungsgabe war unerschöpflich darin, neue Ge-
schäftszweige, Verrichtungen und Handlangerdienste aufzusuchen,
wofür sich ein eigner Gott anstellen ließ. Es gab kein Interesse,
so nichtig und unbedeutend, keinen Moment des menschlichen
Lebens, von der Geburt bis zum Tode, des Landbaus, von der
Saat bis zur Erndte u. s. w., dessen Obhut der prosaische Sinn
der Römer nicht einem sehr langweiligen Gott anvertraut

225) Ich verweise des weitern auf Hegel in seiner Religionsphilosophie
Theil 2, Absch. 2. der die römische Religion ganz treffend als die Religion
der Zweckmäßigkeit bezeichnet.

1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
ſeiner durchaus praktiſchen Richtung mehr, als ein anderer die
Suppoſition eines bewußten, abſichtlichen Thuns — aber die
Hauptrolle ſpielt doch dabei der unvergleichliche nationale In-
ſtinkt. Was iſt dieſer Inſtinkt, iſt er eine Naturanlage, die ſich
nicht weiter begründen läßt, eine primäre Eigenſchaft des römi-
ſchen Geiſtes? Ich erblicke in ihm nur die Folge jener Richtung
auf praktiſche Zwecke, jener zur zweiten Natur gewordenen Ge-
wohnheit der Römer, ihre ganze geiſtige und moraliſche Kraft
im Dienſt der Selbſtſucht zu verwenden. Die Römer können,
möchte ich behaupten, nichts zweckwidriges thun; bewußt oder
unbewußt betrachten ſie alles unter dem Geſichtspunkt der Zweck-
mäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Abſicht und Bewußt-
ſein das Schöne finden, weil ihr ganzes Weſen von der Idee
des Schönen durchdrungen iſt, ſo treffen die Römer mechaniſch
das Zweckmäßige.

Die Idee der Zweckmäßigkeit alſo iſt das Prisma römiſcher
Anſchauung, und den ſchlagendſten Beweis dafür bietet uns die
römiſche Götterwelt. 225) Die Römer konnten nur anerkennen
und ehren, was einen Zweck hatte; Götter, die ohne beſtimm-
ten Beruf bloß ſich ſelbſt gelebt hätten, wären ihnen als Müßig-
gänger erſchienen. Darum hatte jeder römiſche Gott ſeinen
praktiſchen Wirkungskreis, ſo zu ſagen, ſeinen Poſten, für den
und von dem er lebte. Das Prinzip der Theilung der Arbeit
war in der römiſchen Götterlehre ins Lächerliche getrieben, die
römiſche Erfindungsgabe war unerſchöpflich darin, neue Ge-
ſchäftszweige, Verrichtungen und Handlangerdienſte aufzuſuchen,
wofür ſich ein eigner Gott anſtellen ließ. Es gab kein Intereſſe,
ſo nichtig und unbedeutend, keinen Moment des menſchlichen
Lebens, von der Geburt bis zum Tode, des Landbaus, von der
Saat bis zur Erndte u. ſ. w., deſſen Obhut der proſaiſche Sinn
der Römer nicht einem ſehr langweiligen Gott anvertraut

225) Ich verweiſe des weitern auf Hegel in ſeiner Religionsphiloſophie
Theil 2, Abſch. 2. der die römiſche Religion ganz treffend als die Religion
der Zweckmäßigkeit bezeichnet.
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[295/0313] 1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20. ſeiner durchaus praktiſchen Richtung mehr, als ein anderer die Suppoſition eines bewußten, abſichtlichen Thuns — aber die Hauptrolle ſpielt doch dabei der unvergleichliche nationale In- ſtinkt. Was iſt dieſer Inſtinkt, iſt er eine Naturanlage, die ſich nicht weiter begründen läßt, eine primäre Eigenſchaft des römi- ſchen Geiſtes? Ich erblicke in ihm nur die Folge jener Richtung auf praktiſche Zwecke, jener zur zweiten Natur gewordenen Ge- wohnheit der Römer, ihre ganze geiſtige und moraliſche Kraft im Dienſt der Selbſtſucht zu verwenden. Die Römer können, möchte ich behaupten, nichts zweckwidriges thun; bewußt oder unbewußt betrachten ſie alles unter dem Geſichtspunkt der Zweck- mäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Abſicht und Bewußt- ſein das Schöne finden, weil ihr ganzes Weſen von der Idee des Schönen durchdrungen iſt, ſo treffen die Römer mechaniſch das Zweckmäßige. Die Idee der Zweckmäßigkeit alſo iſt das Prisma römiſcher Anſchauung, und den ſchlagendſten Beweis dafür bietet uns die römiſche Götterwelt. 225) Die Römer konnten nur anerkennen und ehren, was einen Zweck hatte; Götter, die ohne beſtimm- ten Beruf bloß ſich ſelbſt gelebt hätten, wären ihnen als Müßig- gänger erſchienen. Darum hatte jeder römiſche Gott ſeinen praktiſchen Wirkungskreis, ſo zu ſagen, ſeinen Poſten, für den und von dem er lebte. Das Prinzip der Theilung der Arbeit war in der römiſchen Götterlehre ins Lächerliche getrieben, die römiſche Erfindungsgabe war unerſchöpflich darin, neue Ge- ſchäftszweige, Verrichtungen und Handlangerdienſte aufzuſuchen, wofür ſich ein eigner Gott anſtellen ließ. Es gab kein Intereſſe, ſo nichtig und unbedeutend, keinen Moment des menſchlichen Lebens, von der Geburt bis zum Tode, des Landbaus, von der Saat bis zur Erndte u. ſ. w., deſſen Obhut der proſaiſche Sinn der Römer nicht einem ſehr langweiligen Gott anvertraut 225) Ich verweiſe des weitern auf Hegel in ſeiner Religionsphiloſophie Theil 2, Abſch. 2. der die römiſche Religion ganz treffend als die Religion der Zweckmäßigkeit bezeichnet.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/313>, abgerufen am 10.06.2024.