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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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1. Prädestination des röm. Geistes zur Cultur des Rechts. §. 20.
mern nicht wie im Orient in einer negativen Eigenschaft -- der
mangelnden Bildungsfähigkeit -- ihren Grund hat, sondern in
Charakterfestigkeit und Beharrlichkeit, das braucht kaum gesagt
zu werden. Es gibt einen Conservatismus der Angst, der nicht
den Muth hat, einer neuen Zeit ins Angesicht zu blicken und
durch seine Kurzsichtigkeit seinen eignen Bestrebungen mehr hin-
derlich, als förderlich wird; mit diesem hat der römische keine
Gemeinschaft. Die Römer haben sich nie gescheut, einer neuen
Zeit gerecht zu werden, alte Einrichtungen, die sich überlebt
hatten, fallen zu lassen, neue einzuführen, und der flüchtigste
Blick auf das römische Recht genügt, um sich zu überzeugen,
daß im Innern desselben Revolutionen vor sich gegangen sind,
die nirgends ihres gleichen finden. Aber diese Revolutionen
waren freilich wie die, welche die Natur durchgemacht hat, nicht
das Werk einer wilden Kraft, die in kurzer Zeit sich erschöpft
und nur stoßweise wirken kann. Sie vollziehen sich höchst all-
mählig und unmerklich, die neuen Ideen und Tendenzen treten
anfänglich schüchtern und fast nur versuchsweise auf, das Be-
stehende setzt ihnen einen gewaltigen Widerstand entgegen, und
ihr endlicher Sieg beruht nie auf einer Ueberrumpelung oder
einer Uebereilung, sondern auf dem hinlänglich erprobten Ue-
bergewicht ihrer Kraft. 231) Dem Neuen muß der Zutritt schwer
gemacht werden, dasselbe muß sich seine Aufnahme erst mühsam
und allmählig erkämpfen; wo dies nicht der Fall, hat es auch
keine Aussicht auf Dauer leicht gewonnen, wird es auch leicht
wieder aufgegeben. Ein Volk, das, wie das römische und
englische, fest am Alten hängt und dem Neuen nur weicht, wenn
der Widerstand unmöglich geworden, hält dieses Neue anderer-

231) Diese Langsamkeit der Entwicklung geben die Römer selbst als
Grund der Vorzüglichkeit ihrer Verfassung an. S. z. B. Cicero de republ.
II. c. 1... ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civi-
tatibus.... quod nostra respublica non unius esset ingenio, sed multo-
rum, nec unius hominis vita, sed aliquot constituta saeculis et aeta-
tibus.

1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.
mern nicht wie im Orient in einer negativen Eigenſchaft — der
mangelnden Bildungsfähigkeit — ihren Grund hat, ſondern in
Charakterfeſtigkeit und Beharrlichkeit, das braucht kaum geſagt
zu werden. Es gibt einen Conſervatismus der Angſt, der nicht
den Muth hat, einer neuen Zeit ins Angeſicht zu blicken und
durch ſeine Kurzſichtigkeit ſeinen eignen Beſtrebungen mehr hin-
derlich, als förderlich wird; mit dieſem hat der römiſche keine
Gemeinſchaft. Die Römer haben ſich nie geſcheut, einer neuen
Zeit gerecht zu werden, alte Einrichtungen, die ſich überlebt
hatten, fallen zu laſſen, neue einzuführen, und der flüchtigſte
Blick auf das römiſche Recht genügt, um ſich zu überzeugen,
daß im Innern deſſelben Revolutionen vor ſich gegangen ſind,
die nirgends ihres gleichen finden. Aber dieſe Revolutionen
waren freilich wie die, welche die Natur durchgemacht hat, nicht
das Werk einer wilden Kraft, die in kurzer Zeit ſich erſchöpft
und nur ſtoßweiſe wirken kann. Sie vollziehen ſich höchſt all-
mählig und unmerklich, die neuen Ideen und Tendenzen treten
anfänglich ſchüchtern und faſt nur verſuchsweiſe auf, das Be-
ſtehende ſetzt ihnen einen gewaltigen Widerſtand entgegen, und
ihr endlicher Sieg beruht nie auf einer Ueberrumpelung oder
einer Uebereilung, ſondern auf dem hinlänglich erprobten Ue-
bergewicht ihrer Kraft. 231) Dem Neuen muß der Zutritt ſchwer
gemacht werden, daſſelbe muß ſich ſeine Aufnahme erſt mühſam
und allmählig erkämpfen; wo dies nicht der Fall, hat es auch
keine Ausſicht auf Dauer leicht gewonnen, wird es auch leicht
wieder aufgegeben. Ein Volk, das, wie das römiſche und
engliſche, feſt am Alten hängt und dem Neuen nur weicht, wenn
der Widerſtand unmöglich geworden, hält dieſes Neue anderer-

231) Dieſe Langſamkeit der Entwicklung geben die Römer ſelbſt als
Grund der Vorzüglichkeit ihrer Verfaſſung an. S. z. B. Cicero de republ.
II. c. 1… ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civi-
tatibus.... quod nostra respublica non unius esset ingenio, sed multo-
rum, nec unius hominis vita, sed aliquot constituta saeculis et aeta-
tibus.
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[309/0327] 1. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20. mern nicht wie im Orient in einer negativen Eigenſchaft — der mangelnden Bildungsfähigkeit — ihren Grund hat, ſondern in Charakterfeſtigkeit und Beharrlichkeit, das braucht kaum geſagt zu werden. Es gibt einen Conſervatismus der Angſt, der nicht den Muth hat, einer neuen Zeit ins Angeſicht zu blicken und durch ſeine Kurzſichtigkeit ſeinen eignen Beſtrebungen mehr hin- derlich, als förderlich wird; mit dieſem hat der römiſche keine Gemeinſchaft. Die Römer haben ſich nie geſcheut, einer neuen Zeit gerecht zu werden, alte Einrichtungen, die ſich überlebt hatten, fallen zu laſſen, neue einzuführen, und der flüchtigſte Blick auf das römiſche Recht genügt, um ſich zu überzeugen, daß im Innern deſſelben Revolutionen vor ſich gegangen ſind, die nirgends ihres gleichen finden. Aber dieſe Revolutionen waren freilich wie die, welche die Natur durchgemacht hat, nicht das Werk einer wilden Kraft, die in kurzer Zeit ſich erſchöpft und nur ſtoßweiſe wirken kann. Sie vollziehen ſich höchſt all- mählig und unmerklich, die neuen Ideen und Tendenzen treten anfänglich ſchüchtern und faſt nur verſuchsweiſe auf, das Be- ſtehende ſetzt ihnen einen gewaltigen Widerſtand entgegen, und ihr endlicher Sieg beruht nie auf einer Ueberrumpelung oder einer Uebereilung, ſondern auf dem hinlänglich erprobten Ue- bergewicht ihrer Kraft. 231) Dem Neuen muß der Zutritt ſchwer gemacht werden, daſſelbe muß ſich ſeine Aufnahme erſt mühſam und allmählig erkämpfen; wo dies nicht der Fall, hat es auch keine Ausſicht auf Dauer leicht gewonnen, wird es auch leicht wieder aufgegeben. Ein Volk, das, wie das römiſche und engliſche, feſt am Alten hängt und dem Neuen nur weicht, wenn der Widerſtand unmöglich geworden, hält dieſes Neue anderer- 231) Dieſe Langſamkeit der Entwicklung geben die Römer ſelbſt als Grund der Vorzüglichkeit ihrer Verfaſſung an. S. z. B. Cicero de republ. II. c. 1… ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civi- tatibus.... quod nostra respublica non unius esset ingenio, sed multo- rum, nec unius hominis vita, sed aliquot constituta saeculis et aeta- tibus.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/327>, abgerufen am 22.11.2024.