Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite
Function des Rechts -- das Leben. §. 4.

Die Function des Rechts im allgemeinen besteht nun darin,
sich zu verwirklichen. Was sich nicht realisirt, ist kein Recht,
und umgekehrt was diese Function ausübt, ist Recht, auch wenn
es noch nicht als solches erkannt ist (Gewohnheits Recht). Die
Wirklichkeit beglaubigt erst den Text, den das Gesetz oder
eine andere Formulirung des Rechts aufstellt, als wahrhaftes
Recht, sie ist mithin das einzige sichere Erkenntnißmittel dessel-
ben. Aber sie ist mehr, sie ist zugleich der Gegenstand und der
Commentar jenes Textes. Kein Gesetzbuch, keine theoretische
Zusammenstellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines
Volkes läßt sich ohne die Kenntniß der realen Zustände dieses
Volkes und dieser Zeit begreifen. Warum die Rechtssätze da
sind, was sie sollen, wie sie durch das Leben in ihrer Wirksam-
keit beeinträchtigt oder unterstützt werden u. s. w. -- auf alle
diese Fragen ertheilt nur das Leben selbst eine Antwort. Die
Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, ist
nichts als der Plan einer Maschine; die beste Erläuterung und
zugleich die Kritik desselben gibt uns die Maschine, wenn sie
geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief-
eingreifende Wichtigkeit, und manche sehr in die Augen sprin-
gende und scheinbar sehr nöthige Walze stellt sich als ziemlich
entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfnissen dieser
bestimmten Zeit liegt der Grund, warum dieses Institut vor-
handen ist oder diese bestimmte Gestalt trägt; in den Voraus-
setzungen, die sie mitbringt, der Grund, der jenes Institut mög-
lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere

tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate con-
stituentium
introductum est L. 15 ibid. In his, quae contra ra-
tionem juris
constituta sunt, non possumus sequi regulam ju-
ris
.
Dem jus singulare selbst wird von den römischen Juristen mit Recht
die logische Productivität abgesprochen, damit der Riß im Recht nicht größer
werde, als nöthig. Es gilt also zwar seinem ganzen Inhalt nach, aber ist
kein productives Prinzip L. 14 ibid: Quod vero contra rationem
juris receptum est, non est producendum ad consequentias.
Function des Rechts — das Leben. §. 4.

Die Function des Rechts im allgemeinen beſteht nun darin,
ſich zu verwirklichen. Was ſich nicht realiſirt, iſt kein Recht,
und umgekehrt was dieſe Function ausübt, iſt Recht, auch wenn
es noch nicht als ſolches erkannt iſt (Gewohnheits Recht). Die
Wirklichkeit beglaubigt erſt den Text, den das Geſetz oder
eine andere Formulirung des Rechts aufſtellt, als wahrhaftes
Recht, ſie iſt mithin das einzige ſichere Erkenntnißmittel deſſel-
ben. Aber ſie iſt mehr, ſie iſt zugleich der Gegenſtand und der
Commentar jenes Textes. Kein Geſetzbuch, keine theoretiſche
Zuſammenſtellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines
Volkes läßt ſich ohne die Kenntniß der realen Zuſtände dieſes
Volkes und dieſer Zeit begreifen. Warum die Rechtsſätze da
ſind, was ſie ſollen, wie ſie durch das Leben in ihrer Wirkſam-
keit beeinträchtigt oder unterſtützt werden u. ſ. w. — auf alle
dieſe Fragen ertheilt nur das Leben ſelbſt eine Antwort. Die
Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, iſt
nichts als der Plan einer Maſchine; die beſte Erläuterung und
zugleich die Kritik deſſelben gibt uns die Maſchine, wenn ſie
geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief-
eingreifende Wichtigkeit, und manche ſehr in die Augen ſprin-
gende und ſcheinbar ſehr nöthige Walze ſtellt ſich als ziemlich
entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfniſſen dieſer
beſtimmten Zeit liegt der Grund, warum dieſes Inſtitut vor-
handen iſt oder dieſe beſtimmte Geſtalt trägt; in den Voraus-
ſetzungen, die ſie mitbringt, der Grund, der jenes Inſtitut mög-
lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere

tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate con-
stituentium
introductum est L. 15 ibid. In his, quae contra ra-
tionem juris
constituta sunt, non possumus sequi regulam ju-
ris
.
Dem jus singulare ſelbſt wird von den römiſchen Juriſten mit Recht
die logiſche Productivität abgeſprochen, damit der Riß im Recht nicht größer
werde, als nöthig. Es gilt alſo zwar ſeinem ganzen Inhalt nach, aber iſt
kein productives Prinzip L. 14 ibid: Quod vero contra rationem
juris receptum est, non est producendum ad consequentias.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0059" n="41"/>
              <fw place="top" type="header">Function des Rechts &#x2014; das Leben. §. 4.</fw><lb/>
              <p>Die Function des Rechts im allgemeinen be&#x017F;teht nun darin,<lb/>
&#x017F;ich zu verwirklichen. Was &#x017F;ich nicht reali&#x017F;irt, i&#x017F;t kein <hi rendition="#g">Recht</hi>,<lb/>
und umgekehrt was die&#x017F;e Function ausübt, i&#x017F;t Recht, auch wenn<lb/>
es noch nicht als &#x017F;olches erkannt i&#x017F;t (Gewohnheits Recht). Die<lb/>
Wirklichkeit <hi rendition="#g">beglaubigt</hi> er&#x017F;t den Text, den das Ge&#x017F;etz oder<lb/>
eine andere Formulirung des Rechts auf&#x017F;tellt, als wahrhaftes<lb/>
Recht, &#x017F;ie i&#x017F;t mithin das einzige &#x017F;ichere Erkenntnißmittel de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben. Aber &#x017F;ie i&#x017F;t mehr, &#x017F;ie i&#x017F;t zugleich der Gegen&#x017F;tand und der<lb/>
Commentar jenes Textes. Kein Ge&#x017F;etzbuch, keine theoreti&#x017F;che<lb/>
Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines<lb/>
Volkes läßt &#x017F;ich ohne die Kenntniß der realen Zu&#x017F;tände <hi rendition="#g">die&#x017F;es</hi><lb/>
Volkes und <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi> Zeit begreifen. Warum die Rechts&#x017F;ätze <hi rendition="#g">da</hi><lb/>
&#x017F;ind, was &#x017F;ie &#x017F;ollen, wie &#x017F;ie durch das Leben in ihrer Wirk&#x017F;am-<lb/>
keit beeinträchtigt oder unter&#x017F;tützt werden u. &#x017F;. w. &#x2014; auf alle<lb/>
die&#x017F;e Fragen ertheilt nur das Leben &#x017F;elb&#x017F;t eine Antwort. Die<lb/>
Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, i&#x017F;t<lb/>
nichts als der Plan einer Ma&#x017F;chine; die be&#x017F;te Erläuterung und<lb/>
zugleich die Kritik de&#x017F;&#x017F;elben gibt uns die Ma&#x017F;chine, wenn &#x017F;ie<lb/>
geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief-<lb/>
eingreifende Wichtigkeit, und manche &#x017F;ehr in die Augen &#x017F;prin-<lb/>
gende und &#x017F;cheinbar &#x017F;ehr nöthige Walze &#x017F;tellt &#x017F;ich als ziemlich<lb/>
entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfni&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi><lb/>
be&#x017F;timmten Zeit liegt der Grund, warum <hi rendition="#g">die&#x017F;es</hi> In&#x017F;titut vor-<lb/>
handen i&#x017F;t oder die&#x017F;e be&#x017F;timmte Ge&#x017F;talt trägt; in den Voraus-<lb/>
&#x017F;etzungen, die &#x017F;ie mitbringt, der Grund, der jenes In&#x017F;titut mög-<lb/>
lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere<lb/><note xml:id="note-0059" prev="#note-0058" place="foot" n="18)"><hi rendition="#aq">tenorem <hi rendition="#g">rationis</hi> propter aliquam <hi rendition="#g">utilitatem auctoritate con-<lb/>
stituentium</hi> introductum est L. 15 ibid. In his, quae <hi rendition="#g">contra ra-<lb/>
tionem juris</hi> constituta sunt, non possumus sequi <hi rendition="#g">regulam ju-<lb/>
ris</hi>.</hi> Dem <hi rendition="#aq">jus singulare</hi> &#x017F;elb&#x017F;t wird von den römi&#x017F;chen Juri&#x017F;ten mit Recht<lb/>
die logi&#x017F;che Productivität abge&#x017F;prochen, damit der Riß im Recht nicht größer<lb/>
werde, als nöthig. Es gilt al&#x017F;o zwar &#x017F;einem ganzen Inhalt nach, aber i&#x017F;t<lb/><hi rendition="#g">kein productives Prinzip</hi> <hi rendition="#aq">L. 14 ibid: Quod vero contra rationem<lb/>
juris receptum est, non est producendum ad consequentias.</hi></note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0059] Function des Rechts — das Leben. §. 4. Die Function des Rechts im allgemeinen beſteht nun darin, ſich zu verwirklichen. Was ſich nicht realiſirt, iſt kein Recht, und umgekehrt was dieſe Function ausübt, iſt Recht, auch wenn es noch nicht als ſolches erkannt iſt (Gewohnheits Recht). Die Wirklichkeit beglaubigt erſt den Text, den das Geſetz oder eine andere Formulirung des Rechts aufſtellt, als wahrhaftes Recht, ſie iſt mithin das einzige ſichere Erkenntnißmittel deſſel- ben. Aber ſie iſt mehr, ſie iſt zugleich der Gegenſtand und der Commentar jenes Textes. Kein Geſetzbuch, keine theoretiſche Zuſammenſtellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines Volkes läßt ſich ohne die Kenntniß der realen Zuſtände dieſes Volkes und dieſer Zeit begreifen. Warum die Rechtsſätze da ſind, was ſie ſollen, wie ſie durch das Leben in ihrer Wirkſam- keit beeinträchtigt oder unterſtützt werden u. ſ. w. — auf alle dieſe Fragen ertheilt nur das Leben ſelbſt eine Antwort. Die Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, iſt nichts als der Plan einer Maſchine; die beſte Erläuterung und zugleich die Kritik deſſelben gibt uns die Maſchine, wenn ſie geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief- eingreifende Wichtigkeit, und manche ſehr in die Augen ſprin- gende und ſcheinbar ſehr nöthige Walze ſtellt ſich als ziemlich entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfniſſen dieſer beſtimmten Zeit liegt der Grund, warum dieſes Inſtitut vor- handen iſt oder dieſe beſtimmte Geſtalt trägt; in den Voraus- ſetzungen, die ſie mitbringt, der Grund, der jenes Inſtitut mög- lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere 18) 18) tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate con- stituentium introductum est L. 15 ibid. In his, quae contra ra- tionem juris constituta sunt, non possumus sequi regulam ju- ris. Dem jus singulare ſelbſt wird von den römiſchen Juriſten mit Recht die logiſche Productivität abgeſprochen, damit der Riß im Recht nicht größer werde, als nöthig. Es gilt alſo zwar ſeinem ganzen Inhalt nach, aber iſt kein productives Prinzip L. 14 ibid: Quod vero contra rationem juris receptum est, non est producendum ad consequentias.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/59
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/59>, abgerufen am 04.12.2024.