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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Formale Realisirbarkeit. §. 4.
Verständnisses der anzuwendenden Rechtssätze gemeint. Sobald
man einen Rechtssatz einmal richtig begriffen hat, ist diese
Aufgabe ein für alle Mal gelöst und wiederholt sich nicht bei
jedem einzelnen Fall seiner Anwendung. Die Aufgabe hingegen,
von deren Schwierigkeit oder Leichtigkeit hier die Rede ist, be-
trifft die Anwendung des Rechtssatzes, den Umsatz der ab-
stracten Regel in concrete Verhältnisse, und sie ist bei jedem
einzelnen Fall von neuem zu lösen. Die Anwendung des Rechts-
satzes besteht darin, daß das, was er abstract hinstellt, con-
cret
ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann sehr leicht,
aber auch unendlich schwer sein. Es hängt dabei zwar viel von
der Geschicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden
ab (wir können diese Fertigkeit die juristische Diagnose nen-
nen), allein die objektive Schwierigkeit oder Leichtigkeit der An-
wendung des Rechtssatzes wird durch ihn selbst bestimmt, dadurch
nämlich ob er seine Bestimmungen an schwer oder leicht erkenn-
bare Kriterien angeknüpft hat. Jeder Rechtssatz knüpft an eine
bestimmte Voraussetzung ("wenn Jemand dies und das ge-
than hat") eine bestimmte Folge ("so soll dies und das eintre-
ten"); 20) ihn anwenden heißt also 1) untersuchen, ob die Vor-
aussetzung im concreten Fall vorliegt und 2) die bloß abstract
ausgedrückte Folge concret ausdrücken, z. B. den Schaden,
den Jemand ersetzen soll, in Geld abschätzen. Nun hängt be-
greiflicherweise sehr viel davon ab, wie jene Voraussetzung und
Folge lautet. Nehmen wir einmal beispielsweise die Behandlung
der Injurie im ältern und spätern römischen Recht. In jenem
bestand die Folge der Injurie d. h. ihre Strafe in einer bestimm-

20) Diese Form ("wenn -- so") ist die einfachste, deutlichste und liegt
jedem Rechtssatz zu Grunde, wenn sie gleich äußerlich nicht hervortritt z. B.
"Unmündige sollen bis zum 25. Jahr unter Vormundschaft stehen, Bürg-
schaften der Frauen sind ungültig u. s. w." Die Voraussetzung ist hier:
wenn Jemand noch nicht 25 Jahr alt ist, wenn eine Bürgschaft vorgenom-
men wird und zwar von einer Frau; die Folge die: so soll er unter Vor-
mundschaft stehen u. s. w.

Formale Realiſirbarkeit. §. 4.
Verſtändniſſes der anzuwendenden Rechtsſätze gemeint. Sobald
man einen Rechtsſatz einmal richtig begriffen hat, iſt dieſe
Aufgabe ein für alle Mal gelöſt und wiederholt ſich nicht bei
jedem einzelnen Fall ſeiner Anwendung. Die Aufgabe hingegen,
von deren Schwierigkeit oder Leichtigkeit hier die Rede iſt, be-
trifft die Anwendung des Rechtsſatzes, den Umſatz der ab-
ſtracten Regel in concrete Verhältniſſe, und ſie iſt bei jedem
einzelnen Fall von neuem zu löſen. Die Anwendung des Rechts-
ſatzes beſteht darin, daß das, was er abſtract hinſtellt, con-
cret
ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann ſehr leicht,
aber auch unendlich ſchwer ſein. Es hängt dabei zwar viel von
der Geſchicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden
ab (wir können dieſe Fertigkeit die juriſtiſche Diagnoſe nen-
nen), allein die objektive Schwierigkeit oder Leichtigkeit der An-
wendung des Rechtsſatzes wird durch ihn ſelbſt beſtimmt, dadurch
nämlich ob er ſeine Beſtimmungen an ſchwer oder leicht erkenn-
bare Kriterien angeknüpft hat. Jeder Rechtsſatz knüpft an eine
beſtimmte Vorausſetzung („wenn Jemand dies und das ge-
than hat“) eine beſtimmte Folge („ſo ſoll dies und das eintre-
ten“); 20) ihn anwenden heißt alſo 1) unterſuchen, ob die Vor-
ausſetzung im concreten Fall vorliegt und 2) die bloß abſtract
ausgedrückte Folge concret ausdrücken, z. B. den Schaden,
den Jemand erſetzen ſoll, in Geld abſchätzen. Nun hängt be-
greiflicherweiſe ſehr viel davon ab, wie jene Vorausſetzung und
Folge lautet. Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe die Behandlung
der Injurie im ältern und ſpätern römiſchen Recht. In jenem
beſtand die Folge der Injurie d. h. ihre Strafe in einer beſtimm-

20) Dieſe Form („wenn — ſo“) iſt die einfachſte, deutlichſte und liegt
jedem Rechtsſatz zu Grunde, wenn ſie gleich äußerlich nicht hervortritt z. B.
„Unmündige ſollen bis zum 25. Jahr unter Vormundſchaft ſtehen, Bürg-
ſchaften der Frauen ſind ungültig u. ſ. w.“ Die Vorausſetzung iſt hier:
wenn Jemand noch nicht 25 Jahr alt iſt, wenn eine Bürgſchaft vorgenom-
men wird und zwar von einer Frau; die Folge die: ſo ſoll er unter Vor-
mundſchaft ſtehen u. ſ. w.
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[43/0061] Formale Realiſirbarkeit. §. 4. Verſtändniſſes der anzuwendenden Rechtsſätze gemeint. Sobald man einen Rechtsſatz einmal richtig begriffen hat, iſt dieſe Aufgabe ein für alle Mal gelöſt und wiederholt ſich nicht bei jedem einzelnen Fall ſeiner Anwendung. Die Aufgabe hingegen, von deren Schwierigkeit oder Leichtigkeit hier die Rede iſt, be- trifft die Anwendung des Rechtsſatzes, den Umſatz der ab- ſtracten Regel in concrete Verhältniſſe, und ſie iſt bei jedem einzelnen Fall von neuem zu löſen. Die Anwendung des Rechts- ſatzes beſteht darin, daß das, was er abſtract hinſtellt, con- cret ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann ſehr leicht, aber auch unendlich ſchwer ſein. Es hängt dabei zwar viel von der Geſchicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden ab (wir können dieſe Fertigkeit die juriſtiſche Diagnoſe nen- nen), allein die objektive Schwierigkeit oder Leichtigkeit der An- wendung des Rechtsſatzes wird durch ihn ſelbſt beſtimmt, dadurch nämlich ob er ſeine Beſtimmungen an ſchwer oder leicht erkenn- bare Kriterien angeknüpft hat. Jeder Rechtsſatz knüpft an eine beſtimmte Vorausſetzung („wenn Jemand dies und das ge- than hat“) eine beſtimmte Folge („ſo ſoll dies und das eintre- ten“); 20) ihn anwenden heißt alſo 1) unterſuchen, ob die Vor- ausſetzung im concreten Fall vorliegt und 2) die bloß abſtract ausgedrückte Folge concret ausdrücken, z. B. den Schaden, den Jemand erſetzen ſoll, in Geld abſchätzen. Nun hängt be- greiflicherweiſe ſehr viel davon ab, wie jene Vorausſetzung und Folge lautet. Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe die Behandlung der Injurie im ältern und ſpätern römiſchen Recht. In jenem beſtand die Folge der Injurie d. h. ihre Strafe in einer beſtimm- 20) Dieſe Form („wenn — ſo“) iſt die einfachſte, deutlichſte und liegt jedem Rechtsſatz zu Grunde, wenn ſie gleich äußerlich nicht hervortritt z. B. „Unmündige ſollen bis zum 25. Jahr unter Vormundſchaft ſtehen, Bürg- ſchaften der Frauen ſind ungültig u. ſ. w.“ Die Vorausſetzung iſt hier: wenn Jemand noch nicht 25 Jahr alt iſt, wenn eine Bürgſchaft vorgenom- men wird und zwar von einer Frau; die Folge die: ſo ſoll er unter Vor- mundſchaft ſtehen u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/61>, abgerufen am 16.05.2024.