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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
stes lag zu centralisiren (B. 1. S. 312, 313), so hat derselbe
auch innerhalb des Rechts von Anfang an das centrale Moment
vorzugsweise kräftig ausgebildet. Die Summe der für alle In-
stitute, Verhältnisse, Klassen von Personen u. s. w. gemeinsa-
men Rechtssätze ist hier ungewöhnlich groß, die Summe der den
einzelnen Instituten, Verhältnissen u. s. w. eigenthümlichen
ungewöhnlich klein. Auf die Vortheile dieser Behandlungs-
weise brauche ich kaum aufmerksam zu machen. Eine kräftige
Entwicklung des Centrums kommt dem ganzen Kreise zu gute;
was an diesem Punkte gewonnen wird, hat nicht bloß eine
punktuelle Bedeutung, sondern eine universelle, es theilt sich
sofort nach allen Seiten hin mit. Nirgends also lohnt sich der
Kraftaufwand mehr, als hier, nirgends ist es leichter, das
Ganze zu übersehen, zu beherrschen und zu gestalten. Wohl
also der Jurisprudenz oder dem Recht, das von vornherein auf
diesen günstigsten Standpunkt der Wirksamkeit versetzt worden
ist! Ist es nun gar ein so bedeutendes juristisches Talent, wie
in Rom, das von diesem Punkt aus operirt, so kann es nicht
Wunder nehmen, daß die technische Ausbildung des Rechts,
selbst bevor noch von einer eigentlich wissenschaftlichen Cultur

licht haben, für die aber noch die rechte Formel nicht gefunden ist. Mit jeder
solcher neuen Entdeckung wird die Kraft des deutschen Rechts sich verdoppeln
und wird ein Stück des römischen Rechts von uns abfallen, ohne daß der
Gesetzgeber zu dem Zweck seine Hand zu rühren hätte. Die Stärke der römi-
schen, die Schwäche der germanischen Jurisprudenz liegt in der Ausbildung
des centralen Moments, und hier ist der Punkt, wo letztere den Kampf aufzu-
nehmen hat, und wo sie ihn mit großem Erfolg wird führen können. Da-
durch daß unser Recht nach dieser Seite hin zu schwach war, ist das römische
Herr über uns geworden; wollen wir uns von letzterem befreien, so ist das
nicht der rechte Weg, die Differenz zwischen unserer partikularisirenden und
individualisirenden Rechtsanschauung und der römischen centralisirenden zu
constatiren -- denn das heißt ja gerade deduciren, wie nöthig uns das römi-
sche Recht war -- sondern umgekehrt das centrale Moment der deutschen
Rechtsanschauung zu cultiviren, nachzuweisen, daß wir nicht so arm sind, als
man glaubte, nicht nöthig haben, unsern Bedarf an centralen Gesichtspunkten
lediglich vom römischen Recht zu borgen.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſtes lag zu centraliſiren (B. 1. S. 312, 313), ſo hat derſelbe
auch innerhalb des Rechts von Anfang an das centrale Moment
vorzugsweiſe kräftig ausgebildet. Die Summe der für alle In-
ſtitute, Verhältniſſe, Klaſſen von Perſonen u. ſ. w. gemeinſa-
men Rechtsſätze iſt hier ungewöhnlich groß, die Summe der den
einzelnen Inſtituten, Verhältniſſen u. ſ. w. eigenthümlichen
ungewöhnlich klein. Auf die Vortheile dieſer Behandlungs-
weiſe brauche ich kaum aufmerkſam zu machen. Eine kräftige
Entwicklung des Centrums kommt dem ganzen Kreiſe zu gute;
was an dieſem Punkte gewonnen wird, hat nicht bloß eine
punktuelle Bedeutung, ſondern eine univerſelle, es theilt ſich
ſofort nach allen Seiten hin mit. Nirgends alſo lohnt ſich der
Kraftaufwand mehr, als hier, nirgends iſt es leichter, das
Ganze zu überſehen, zu beherrſchen und zu geſtalten. Wohl
alſo der Jurisprudenz oder dem Recht, das von vornherein auf
dieſen günſtigſten Standpunkt der Wirkſamkeit verſetzt worden
iſt! Iſt es nun gar ein ſo bedeutendes juriſtiſches Talent, wie
in Rom, das von dieſem Punkt aus operirt, ſo kann es nicht
Wunder nehmen, daß die techniſche Ausbildung des Rechts,
ſelbſt bevor noch von einer eigentlich wiſſenſchaftlichen Cultur

licht haben, für die aber noch die rechte Formel nicht gefunden iſt. Mit jeder
ſolcher neuen Entdeckung wird die Kraft des deutſchen Rechts ſich verdoppeln
und wird ein Stück des römiſchen Rechts von uns abfallen, ohne daß der
Geſetzgeber zu dem Zweck ſeine Hand zu rühren hätte. Die Stärke der römi-
ſchen, die Schwäche der germaniſchen Jurisprudenz liegt in der Ausbildung
des centralen Moments, und hier iſt der Punkt, wo letztere den Kampf aufzu-
nehmen hat, und wo ſie ihn mit großem Erfolg wird führen können. Da-
durch daß unſer Recht nach dieſer Seite hin zu ſchwach war, iſt das römiſche
Herr über uns geworden; wollen wir uns von letzterem befreien, ſo iſt das
nicht der rechte Weg, die Differenz zwiſchen unſerer partikulariſirenden und
individualiſirenden Rechtsanſchauung und der römiſchen centraliſirenden zu
conſtatiren — denn das heißt ja gerade deduciren, wie nöthig uns das römi-
ſche Recht war — ſondern umgekehrt das centrale Moment der deutſchen
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man glaubte, nicht nöthig haben, unſern Bedarf an centralen Geſichtspunkten
lediglich vom römiſchen Recht zu borgen.
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[122/0136] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſtes lag zu centraliſiren (B. 1. S. 312, 313), ſo hat derſelbe auch innerhalb des Rechts von Anfang an das centrale Moment vorzugsweiſe kräftig ausgebildet. Die Summe der für alle In- ſtitute, Verhältniſſe, Klaſſen von Perſonen u. ſ. w. gemeinſa- men Rechtsſätze iſt hier ungewöhnlich groß, die Summe der den einzelnen Inſtituten, Verhältniſſen u. ſ. w. eigenthümlichen ungewöhnlich klein. Auf die Vortheile dieſer Behandlungs- weiſe brauche ich kaum aufmerkſam zu machen. Eine kräftige Entwicklung des Centrums kommt dem ganzen Kreiſe zu gute; was an dieſem Punkte gewonnen wird, hat nicht bloß eine punktuelle Bedeutung, ſondern eine univerſelle, es theilt ſich ſofort nach allen Seiten hin mit. Nirgends alſo lohnt ſich der Kraftaufwand mehr, als hier, nirgends iſt es leichter, das Ganze zu überſehen, zu beherrſchen und zu geſtalten. Wohl alſo der Jurisprudenz oder dem Recht, das von vornherein auf dieſen günſtigſten Standpunkt der Wirkſamkeit verſetzt worden iſt! Iſt es nun gar ein ſo bedeutendes juriſtiſches Talent, wie in Rom, das von dieſem Punkt aus operirt, ſo kann es nicht Wunder nehmen, daß die techniſche Ausbildung des Rechts, ſelbſt bevor noch von einer eigentlich wiſſenſchaftlichen Cultur 140) 140) licht haben, für die aber noch die rechte Formel nicht gefunden iſt. Mit jeder ſolcher neuen Entdeckung wird die Kraft des deutſchen Rechts ſich verdoppeln und wird ein Stück des römiſchen Rechts von uns abfallen, ohne daß der Geſetzgeber zu dem Zweck ſeine Hand zu rühren hätte. Die Stärke der römi- ſchen, die Schwäche der germaniſchen Jurisprudenz liegt in der Ausbildung des centralen Moments, und hier iſt der Punkt, wo letztere den Kampf aufzu- nehmen hat, und wo ſie ihn mit großem Erfolg wird führen können. Da- durch daß unſer Recht nach dieſer Seite hin zu ſchwach war, iſt das römiſche Herr über uns geworden; wollen wir uns von letzterem befreien, ſo iſt das nicht der rechte Weg, die Differenz zwiſchen unſerer partikulariſirenden und individualiſirenden Rechtsanſchauung und der römiſchen centraliſirenden zu conſtatiren — denn das heißt ja gerade deduciren, wie nöthig uns das römi- ſche Recht war — ſondern umgekehrt das centrale Moment der deutſchen Rechtsanſchauung zu cultiviren, nachzuweiſen, daß wir nicht ſo arm ſind, als man glaubte, nicht nöthig haben, unſern Bedarf an centralen Geſichtspunkten lediglich vom römiſchen Recht zu borgen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/136>, abgerufen am 21.11.2024.