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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Opfer und Anstrengungen fähig ist, und die aus dem Gefühl
eines Berufs zum Herrschen hervorgeht. Wo eine ungewöhn-
liche moralische Kraft vorhanden ist, wird auch der Beruf zur
Geltendmachung derselben empfunden werden, und was ist hier
die Herrschsucht anders, als die innere Stimme, die an den
Beruf mahnt?

Dieser Art war die Herrschsucht der Römer, bevor sie dege-
nerirte. Nicht Genußsucht war es, was ihnen in ihrer guten
Zeit die Herrschaft werth machte; ein müheloser Besitz würde
sie gar nicht befriedigt haben. Für sie hatte nicht bloß das
Ziel, sondern der Weg selbst einen Reiz; der Zustand der
äußersten Anspannung der Kräfte, das Erproben der eigenen
Stärke an den äußeren Hindernissen, die Gefahr, der Kampf
als solcher war ihnen ein Bedürfniß; man möchte sagen, es
war eine Naturnothwendigkeit für sie, der gewaltigen Kraft,
die in ihnen drängte und Auslaß begehrte, sich zu entledigen.
Gleich als ob das Leben noch nicht genug Gelegenheit zur Be-
friedigung dieses Bedürfnisses dargeboten hätte, mußten selbst
die Spiele in Rom diesem Zweck dienen; ihr hauptsäch-
lichster Reiz lag ja in der Aufregung und Spannung, die
die Gefahr selbst für den unbetheiligten Zuschauer mit sich
bringt. Bei andern Völkern hat sich dasselbe Bedürfniß einer
Entlassung der überschüssigen Kraft nicht selten in orkanartigen
und darum weniger nachhaltigen Eruptionen zu befriedigen ge-
sucht. An ein solches wildes Sich Retten vor sich selbst, das dem
blinden Walten der Naturkraft vergleichbar ist, haben wir bei
den Römern nicht zu denken. Denn ihre Kraft schlägt geregelte
Bahnen ein, dient mit stets sich gleich bleibender Anspannung
einem bewußten Zweck, dem Zweck nämlich, den römischen
Staat in der Welt zur Herrschaft zu bringen. Diese Herrschaft
erschien den Römern nicht als Usurpation, sondern als ein auf
ihrer moralischen Superiorität über die übrigen Völker beru-
hendes Recht, als der eigenthümliche Beruf Roms, bei dessen
Verfolgung sie der Zustimmung und Hülfe der Götter glaubten

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Opfer und Anſtrengungen fähig iſt, und die aus dem Gefühl
eines Berufs zum Herrſchen hervorgeht. Wo eine ungewöhn-
liche moraliſche Kraft vorhanden iſt, wird auch der Beruf zur
Geltendmachung derſelben empfunden werden, und was iſt hier
die Herrſchſucht anders, als die innere Stimme, die an den
Beruf mahnt?

Dieſer Art war die Herrſchſucht der Römer, bevor ſie dege-
nerirte. Nicht Genußſucht war es, was ihnen in ihrer guten
Zeit die Herrſchaft werth machte; ein müheloſer Beſitz würde
ſie gar nicht befriedigt haben. Für ſie hatte nicht bloß das
Ziel, ſondern der Weg ſelbſt einen Reiz; der Zuſtand der
äußerſten Anſpannung der Kräfte, das Erproben der eigenen
Stärke an den äußeren Hinderniſſen, die Gefahr, der Kampf
als ſolcher war ihnen ein Bedürfniß; man möchte ſagen, es
war eine Naturnothwendigkeit für ſie, der gewaltigen Kraft,
die in ihnen drängte und Auslaß begehrte, ſich zu entledigen.
Gleich als ob das Leben noch nicht genug Gelegenheit zur Be-
friedigung dieſes Bedürfniſſes dargeboten hätte, mußten ſelbſt
die Spiele in Rom dieſem Zweck dienen; ihr hauptſäch-
lichſter Reiz lag ja in der Aufregung und Spannung, die
die Gefahr ſelbſt für den unbetheiligten Zuſchauer mit ſich
bringt. Bei andern Völkern hat ſich daſſelbe Bedürfniß einer
Entlaſſung der überſchüſſigen Kraft nicht ſelten in orkanartigen
und darum weniger nachhaltigen Eruptionen zu befriedigen ge-
ſucht. An ein ſolches wildes Sich Retten vor ſich ſelbſt, das dem
blinden Walten der Naturkraft vergleichbar iſt, haben wir bei
den Römern nicht zu denken. Denn ihre Kraft ſchlägt geregelte
Bahnen ein, dient mit ſtets ſich gleich bleibender Anſpannung
einem bewußten Zweck, dem Zweck nämlich, den römiſchen
Staat in der Welt zur Herrſchaft zu bringen. Dieſe Herrſchaft
erſchien den Römern nicht als Uſurpation, ſondern als ein auf
ihrer moraliſchen Superiorität über die übrigen Völker beru-
hendes Recht, als der eigenthümliche Beruf Roms, bei deſſen
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[136/0150] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Opfer und Anſtrengungen fähig iſt, und die aus dem Gefühl eines Berufs zum Herrſchen hervorgeht. Wo eine ungewöhn- liche moraliſche Kraft vorhanden iſt, wird auch der Beruf zur Geltendmachung derſelben empfunden werden, und was iſt hier die Herrſchſucht anders, als die innere Stimme, die an den Beruf mahnt? Dieſer Art war die Herrſchſucht der Römer, bevor ſie dege- nerirte. Nicht Genußſucht war es, was ihnen in ihrer guten Zeit die Herrſchaft werth machte; ein müheloſer Beſitz würde ſie gar nicht befriedigt haben. Für ſie hatte nicht bloß das Ziel, ſondern der Weg ſelbſt einen Reiz; der Zuſtand der äußerſten Anſpannung der Kräfte, das Erproben der eigenen Stärke an den äußeren Hinderniſſen, die Gefahr, der Kampf als ſolcher war ihnen ein Bedürfniß; man möchte ſagen, es war eine Naturnothwendigkeit für ſie, der gewaltigen Kraft, die in ihnen drängte und Auslaß begehrte, ſich zu entledigen. Gleich als ob das Leben noch nicht genug Gelegenheit zur Be- friedigung dieſes Bedürfniſſes dargeboten hätte, mußten ſelbſt die Spiele in Rom dieſem Zweck dienen; ihr hauptſäch- lichſter Reiz lag ja in der Aufregung und Spannung, die die Gefahr ſelbſt für den unbetheiligten Zuſchauer mit ſich bringt. Bei andern Völkern hat ſich daſſelbe Bedürfniß einer Entlaſſung der überſchüſſigen Kraft nicht ſelten in orkanartigen und darum weniger nachhaltigen Eruptionen zu befriedigen ge- ſucht. An ein ſolches wildes Sich Retten vor ſich ſelbſt, das dem blinden Walten der Naturkraft vergleichbar iſt, haben wir bei den Römern nicht zu denken. Denn ihre Kraft ſchlägt geregelte Bahnen ein, dient mit ſtets ſich gleich bleibender Anſpannung einem bewußten Zweck, dem Zweck nämlich, den römiſchen Staat in der Welt zur Herrſchaft zu bringen. Dieſe Herrſchaft erſchien den Römern nicht als Uſurpation, ſondern als ein auf ihrer moraliſchen Superiorität über die übrigen Völker beru- hendes Recht, als der eigenthümliche Beruf Roms, bei deſſen Verfolgung ſie der Zuſtimmung und Hülfe der Götter glaubten

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/150>, abgerufen am 21.11.2024.