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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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B. Stellung der Magistratur. -- Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
den findet sich die constante Handlungsweise, und beide werden
durch einzelne Ausnahmsfälle nicht ausgeschlossen. Aber inner-
lich sind sie durchaus verschieden, denn so zwingend immerhin
die Macht der Sitte sein kann, sie ist nicht rechtlicher Art, die
Uebertretung der Sitte begründet mithin keine Rechtswidrigkeit.

Dem Gewohnheitsrecht gegenüber erscheint die Sitte als
etwas Unvollkommenes, noch nicht Fertiges, aber in dieser Un-
vollkommenheit liegt zugleich ein eigenthümlicher Vorzug der-
selben vor dem Gewohnheitsrecht. Für gewisse Verhältnisse ist
gerade sie das allein zutreffende, überall da nämlich, wo zwar
die Beobachtung einer gewissen Norm die Regel bilden, die
Möglichkeit einer motivirten Abweichung von derselben aber
offen bleiben muß. Es ist also nicht Zufall, daß gewisse Nor-
men stets im Stadium der Sitte verharren; sie würden ihre
eigenthümliche Brauchbarkeit einbüßen, sowie sie zu eigentli-
chen Rechtssätzen erhoben würden. Diese Bemerkung bezieht
sich ebensowohl auf die Verhältnisse des öffentlichen Rechts, als
auf die des Privatrechts, und gerade das Beispiel des ältern
Rom (wie aus der Gegenwart das von England) ist recht ge-
eignet, uns die Bedeutung der Sitte für das öffentliche Recht
zu veranschaulichen. In dem conservativen Element des römi-
schen Charakters lag es begründet, daß man den staatsrechtli-
chen Vorgängen, Präcedentien (exempla majorum) einen gro-
ßen Einfluß einräumte,429) und daß sich folglich hier leicht eine

429) Es ist eine grandiose Uebertreibung, wenn in der Geschichte der
Römer von Gerlach und Bachofen B. 1. Abth. 2. S. 208: "die Präce-
dentien zur einzigen Grundlage des spätern Zustandes und zur einzigen Norm
seiner Beurtheilung" erhoben werden. Wäre ein solcher Zustand irgendwo
denkbar, so verdiente das Volk, bei dem er sich fände, nur mit einer Schaaf-
heerde, die dem Hammel nachspringt, verglichen zu werden. Bisher möchte
aber dies Volk nur einem Verehrer des absoluten Stillstandes in seinen Vi-
sionen erschienen sein, dasselbe aber nach Rom zu versetzen, müßte Einem, der
etwas von Rom gehört hat, meine ich, selbst im Schlaf nicht möglich sein.
Was hieße denn jener Götzendienst mit Präcedentien anders, als der sünd-

B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
den findet ſich die conſtante Handlungsweiſe, und beide werden
durch einzelne Ausnahmsfälle nicht ausgeſchloſſen. Aber inner-
lich ſind ſie durchaus verſchieden, denn ſo zwingend immerhin
die Macht der Sitte ſein kann, ſie iſt nicht rechtlicher Art, die
Uebertretung der Sitte begründet mithin keine Rechtswidrigkeit.

Dem Gewohnheitsrecht gegenüber erſcheint die Sitte als
etwas Unvollkommenes, noch nicht Fertiges, aber in dieſer Un-
vollkommenheit liegt zugleich ein eigenthümlicher Vorzug der-
ſelben vor dem Gewohnheitsrecht. Für gewiſſe Verhältniſſe iſt
gerade ſie das allein zutreffende, überall da nämlich, wo zwar
die Beobachtung einer gewiſſen Norm die Regel bilden, die
Möglichkeit einer motivirten Abweichung von derſelben aber
offen bleiben muß. Es iſt alſo nicht Zufall, daß gewiſſe Nor-
men ſtets im Stadium der Sitte verharren; ſie würden ihre
eigenthümliche Brauchbarkeit einbüßen, ſowie ſie zu eigentli-
chen Rechtsſätzen erhoben würden. Dieſe Bemerkung bezieht
ſich ebenſowohl auf die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts, als
auf die des Privatrechts, und gerade das Beiſpiel des ältern
Rom (wie aus der Gegenwart das von England) iſt recht ge-
eignet, uns die Bedeutung der Sitte für das öffentliche Recht
zu veranſchaulichen. In dem conſervativen Element des römi-
ſchen Charakters lag es begründet, daß man den ſtaatsrechtli-
chen Vorgängen, Präcedentien (exempla majorum) einen gro-
ßen Einfluß einräumte,429) und daß ſich folglich hier leicht eine

429) Es iſt eine grandioſe Uebertreibung, wenn in der Geſchichte der
Römer von Gerlach und Bachofen B. 1. Abth. 2. S. 208: „die Präce-
dentien zur einzigen Grundlage des ſpätern Zuſtandes und zur einzigen Norm
ſeiner Beurtheilung“ erhoben werden. Wäre ein ſolcher Zuſtand irgendwo
denkbar, ſo verdiente das Volk, bei dem er ſich fände, nur mit einer Schaaf-
heerde, die dem Hammel nachſpringt, verglichen zu werden. Bisher möchte
aber dies Volk nur einem Verehrer des abſoluten Stillſtandes in ſeinen Vi-
ſionen erſchienen ſein, daſſelbe aber nach Rom zu verſetzen, müßte Einem, der
etwas von Rom gehört hat, meine ich, ſelbſt im Schlaf nicht möglich ſein.
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[285/0299] B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35. den findet ſich die conſtante Handlungsweiſe, und beide werden durch einzelne Ausnahmsfälle nicht ausgeſchloſſen. Aber inner- lich ſind ſie durchaus verſchieden, denn ſo zwingend immerhin die Macht der Sitte ſein kann, ſie iſt nicht rechtlicher Art, die Uebertretung der Sitte begründet mithin keine Rechtswidrigkeit. Dem Gewohnheitsrecht gegenüber erſcheint die Sitte als etwas Unvollkommenes, noch nicht Fertiges, aber in dieſer Un- vollkommenheit liegt zugleich ein eigenthümlicher Vorzug der- ſelben vor dem Gewohnheitsrecht. Für gewiſſe Verhältniſſe iſt gerade ſie das allein zutreffende, überall da nämlich, wo zwar die Beobachtung einer gewiſſen Norm die Regel bilden, die Möglichkeit einer motivirten Abweichung von derſelben aber offen bleiben muß. Es iſt alſo nicht Zufall, daß gewiſſe Nor- men ſtets im Stadium der Sitte verharren; ſie würden ihre eigenthümliche Brauchbarkeit einbüßen, ſowie ſie zu eigentli- chen Rechtsſätzen erhoben würden. Dieſe Bemerkung bezieht ſich ebenſowohl auf die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts, als auf die des Privatrechts, und gerade das Beiſpiel des ältern Rom (wie aus der Gegenwart das von England) iſt recht ge- eignet, uns die Bedeutung der Sitte für das öffentliche Recht zu veranſchaulichen. In dem conſervativen Element des römi- ſchen Charakters lag es begründet, daß man den ſtaatsrechtli- chen Vorgängen, Präcedentien (exempla majorum) einen gro- ßen Einfluß einräumte, 429) und daß ſich folglich hier leicht eine 429) Es iſt eine grandioſe Uebertreibung, wenn in der Geſchichte der Römer von Gerlach und Bachofen B. 1. Abth. 2. S. 208: „die Präce- dentien zur einzigen Grundlage des ſpätern Zuſtandes und zur einzigen Norm ſeiner Beurtheilung“ erhoben werden. Wäre ein ſolcher Zuſtand irgendwo denkbar, ſo verdiente das Volk, bei dem er ſich fände, nur mit einer Schaaf- heerde, die dem Hammel nachſpringt, verglichen zu werden. Bisher möchte aber dies Volk nur einem Verehrer des abſoluten Stillſtandes in ſeinen Vi- ſionen erſchienen ſein, daſſelbe aber nach Rom zu verſetzen, müßte Einem, der etwas von Rom gehört hat, meine ich, ſelbſt im Schlaf nicht möglich ſein. Was hieße denn jener Götzendienſt mit Präcedentien anders, als der ſünd-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/299>, abgerufen am 21.11.2024.