Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Senats). Es war mithin auch das Gegengewicht der Gründeverschieden, die von der andern Seite in die Wagschale gewor- fen werden mußten, um hier und dort eine Abweichung zu rechtfertigen. Begreiflich, daß hierbei die Individualität des Beamten, seine Aengstlichkeit oder Entschlossenheit, seine poli- tische Richtung und Ansicht vom größten Einfluß waren. Im- mer aber mußte er sich sagen, daß die Abweichung von der Sitte ein Schritt sei, der Aufsehn mache und der Rechtfertigung bedürfe, und daß ihn, auch wenn er nach bester Ueberzeugung gehandelt hatte, Tadel und demnächst Anklage und Strafe tref- fen könne. Wer von ächter Vaterlandsliebe beseelt war, ließ sich durch diese Rücksicht nicht abhalten, aber ohne Noth, ohne entschiedenes Uebergewicht auf der andern Seite trat auch er nicht mit der bisherigen Sitte in Widerspruch. So war es möglich, daß manche Normen Jahrhunderte lang ausnahmslos beachtet wurden, bis eine ungewöhnliche Complication der Ver- hältnisse einen entschlossenen Magistrat veranlaßte, sich hierin von der Praxis loszusagen. Hätte letztere absolut verbindende Kraft gehabt, so enthielt eine solche Handlung eine entschiedene Illegalität, zu der der Magistrat ohne die äußerste Noth und ohne die Autorität des Senats sich nicht entschlossen haben würde. Die Art, wie die römischen Schriftsteller derartiger Beispiele gedenken, so wie die Verhältnisse, unter denen sie vor- kamen, zeigt, daß eine solche Auffassung den Römern fremd war. Es kommt jetzt darauf an, die bisher entwickelte Ansicht zu 433) Einrichtungen socialer Art, Sätze der traditionellen römischen Mo-
ral u. s. w. werden ebensowohl auf die mos gestützt, als Einrichtungen rein Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Senats). Es war mithin auch das Gegengewicht der Gründeverſchieden, die von der andern Seite in die Wagſchale gewor- fen werden mußten, um hier und dort eine Abweichung zu rechtfertigen. Begreiflich, daß hierbei die Individualität des Beamten, ſeine Aengſtlichkeit oder Entſchloſſenheit, ſeine poli- tiſche Richtung und Anſicht vom größten Einfluß waren. Im- mer aber mußte er ſich ſagen, daß die Abweichung von der Sitte ein Schritt ſei, der Aufſehn mache und der Rechtfertigung bedürfe, und daß ihn, auch wenn er nach beſter Ueberzeugung gehandelt hatte, Tadel und demnächſt Anklage und Strafe tref- fen könne. Wer von ächter Vaterlandsliebe beſeelt war, ließ ſich durch dieſe Rückſicht nicht abhalten, aber ohne Noth, ohne entſchiedenes Uebergewicht auf der andern Seite trat auch er nicht mit der bisherigen Sitte in Widerſpruch. So war es möglich, daß manche Normen Jahrhunderte lang ausnahmslos beachtet wurden, bis eine ungewöhnliche Complication der Ver- hältniſſe einen entſchloſſenen Magiſtrat veranlaßte, ſich hierin von der Praxis loszuſagen. Hätte letztere abſolut verbindende Kraft gehabt, ſo enthielt eine ſolche Handlung eine entſchiedene Illegalität, zu der der Magiſtrat ohne die äußerſte Noth und ohne die Autorität des Senats ſich nicht entſchloſſen haben würde. Die Art, wie die römiſchen Schriftſteller derartiger Beiſpiele gedenken, ſo wie die Verhältniſſe, unter denen ſie vor- kamen, zeigt, daß eine ſolche Auffaſſung den Römern fremd war. Es kommt jetzt darauf an, die bisher entwickelte Anſicht zu 433) Einrichtungen ſocialer Art, Sätze der traditionellen römiſchen Mo-
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Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Senats). Es war mithin auch das Gegengewicht der Gründe
verſchieden, die von der andern Seite in die Wagſchale gewor-
fen werden mußten, um hier und dort eine Abweichung zu
rechtfertigen. Begreiflich, daß hierbei die Individualität des
Beamten, ſeine Aengſtlichkeit oder Entſchloſſenheit, ſeine poli-
tiſche Richtung und Anſicht vom größten Einfluß waren. Im-
mer aber mußte er ſich ſagen, daß die Abweichung von der
Sitte ein Schritt ſei, der Aufſehn mache und der Rechtfertigung
bedürfe, und daß ihn, auch wenn er nach beſter Ueberzeugung
gehandelt hatte, Tadel und demnächſt Anklage und Strafe tref-
fen könne. Wer von ächter Vaterlandsliebe beſeelt war, ließ
ſich durch dieſe Rückſicht nicht abhalten, aber ohne Noth, ohne
entſchiedenes Uebergewicht auf der andern Seite trat auch er
nicht mit der bisherigen Sitte in Widerſpruch. So war es
möglich, daß manche Normen Jahrhunderte lang ausnahmslos
beachtet wurden, bis eine ungewöhnliche Complication der Ver-
hältniſſe einen entſchloſſenen Magiſtrat veranlaßte, ſich hierin
von der Praxis loszuſagen. Hätte letztere abſolut verbindende
Kraft gehabt, ſo enthielt eine ſolche Handlung eine entſchiedene
Illegalität, zu der der Magiſtrat ohne die äußerſte Noth und
ohne die Autorität des Senats ſich nicht entſchloſſen haben
würde. Die Art, wie die römiſchen Schriftſteller derartiger
Beiſpiele gedenken, ſo wie die Verhältniſſe, unter denen ſie vor-
kamen, zeigt, daß eine ſolche Auffaſſung den Römern fremd war.
Es kommt jetzt darauf an, die bisher entwickelte Anſicht zu
beweiſen. Es iſt nun zunächſt mit allgemeinen Ausſprüchen der
Römer über die mos und mores majorum, z. B. daß die mos
als Geſetz beachtet werde, nichts gewonnen. Will man mit
ſolchen Argumenten kämpfen, ſo könnte auch ich von meiner
Seite darauf Gewicht legen, daß mos nicht bloß Gewohnheits-
recht, ſondern auch die Sitte in unſerem Sinn bezeichnet. 433)
433) Einrichtungen ſocialer Art, Sätze der traditionellen römiſchen Mo-
ral u. ſ. w. werden ebenſowohl auf die mos geſtützt, als Einrichtungen rein
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