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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. -- Die Extreme. §. 24.
daher den Leser um Entschuldigung bitten, wenn der Weg, den
ich ihn führen werde, nicht der gangbarste und kürzeste ist; um
diesen zu finden, dazu bedarf es fortgesetzter Versuche verschiede-
ner Personen. Möge der vorliegende Versuch die Aufmerksam-
keit auf diesen Punkt hinlenken und bald durch einen bessern
verdrängt werden! Ich will nur noch bemerken, daß ich es bei
dem von mir eingeschlagenen Wege nicht habe vermeiden können,
manche Punkte bereits oberflächlich zu berühren, die wir erst
später näher werden kennen lernen -- was beiläufig gesagt sich
im Verlauf dieses Buchs noch öfter wiederholen wird und bei
der Natur des Themas, bei dem die Fäden des Geflechtes sich
beständig kreuzen, unvermeidlich ist.

Möge die Philosophie nun immerhin sich rühmen, uns die
Selbständigkeit des Rechts in der Idee nachgewiesen zu haben:
ein anderes Ding ist es um das lebendige Recht der Wirklich-
keit, ein anderes Ding um die Idee, diesen Schatten, den das
Recht der Wirklichkeit in die einsame Kammer des Philosophen
wirft. Denn jenes ist hineingestellt mitten in die Strömung des
Lebens, in den Kampf erbitterter Partheien und auf einander
prallender Gegensätze, ausgesetzt dem Sturm der Leidenschaften,
die hier toben, bestimmt, den Anforderungen, Interessen, Bestre-
bungen des Lebens gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten
findet die der Idee des Rechts zukommende Selbständigkeit hier
vor, um sich geltend zu machen, welche Schwankungen statt
jenes ruhigen Gleichgewichts, in dem das Recht der Idee sich
befindet!

Die zwei äußersten Punkte, zwischen denen das Recht der
Wirklichkeit beständig oscillirt, sind das Extrem der Unselbstän-
digkeit auf der einen, das Extrem der Selbständigkeit auf der
andern Seite. Bei der Neigung nach jener Seite fehlt dem
Recht, um es allgemein auszudrücken, das Vermögen der innern
Selbstbestimmung und die Kraft, äußere Einflüsse, die seiner
Natur widerstreben, zurückzuweisen, im Uebrigen aber kann diese
Unselbständigkeit ihrem Grade, ihrer Art und ihren Ursachen nach

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.
daher den Leſer um Entſchuldigung bitten, wenn der Weg, den
ich ihn führen werde, nicht der gangbarſte und kürzeſte iſt; um
dieſen zu finden, dazu bedarf es fortgeſetzter Verſuche verſchiede-
ner Perſonen. Möge der vorliegende Verſuch die Aufmerkſam-
keit auf dieſen Punkt hinlenken und bald durch einen beſſern
verdrängt werden! Ich will nur noch bemerken, daß ich es bei
dem von mir eingeſchlagenen Wege nicht habe vermeiden können,
manche Punkte bereits oberflächlich zu berühren, die wir erſt
ſpäter näher werden kennen lernen — was beiläufig geſagt ſich
im Verlauf dieſes Buchs noch öfter wiederholen wird und bei
der Natur des Themas, bei dem die Fäden des Geflechtes ſich
beſtändig kreuzen, unvermeidlich iſt.

Möge die Philoſophie nun immerhin ſich rühmen, uns die
Selbſtändigkeit des Rechts in der Idee nachgewieſen zu haben:
ein anderes Ding iſt es um das lebendige Recht der Wirklich-
keit, ein anderes Ding um die Idee, dieſen Schatten, den das
Recht der Wirklichkeit in die einſame Kammer des Philoſophen
wirft. Denn jenes iſt hineingeſtellt mitten in die Strömung des
Lebens, in den Kampf erbitterter Partheien und auf einander
prallender Gegenſätze, ausgeſetzt dem Sturm der Leidenſchaften,
die hier toben, beſtimmt, den Anforderungen, Intereſſen, Beſtre-
bungen des Lebens gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten
findet die der Idee des Rechts zukommende Selbſtändigkeit hier
vor, um ſich geltend zu machen, welche Schwankungen ſtatt
jenes ruhigen Gleichgewichts, in dem das Recht der Idee ſich
befindet!

Die zwei äußerſten Punkte, zwiſchen denen das Recht der
Wirklichkeit beſtändig oscillirt, ſind das Extrem der Unſelbſtän-
digkeit auf der einen, das Extrem der Selbſtändigkeit auf der
andern Seite. Bei der Neigung nach jener Seite fehlt dem
Recht, um es allgemein auszudrücken, das Vermögen der innern
Selbſtbeſtimmung und die Kraft, äußere Einflüſſe, die ſeiner
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Unſelbſtändigkeit ihrem Grade, ihrer Art und ihren Urſachen nach

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[21/0035] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24. daher den Leſer um Entſchuldigung bitten, wenn der Weg, den ich ihn führen werde, nicht der gangbarſte und kürzeſte iſt; um dieſen zu finden, dazu bedarf es fortgeſetzter Verſuche verſchiede- ner Perſonen. Möge der vorliegende Verſuch die Aufmerkſam- keit auf dieſen Punkt hinlenken und bald durch einen beſſern verdrängt werden! Ich will nur noch bemerken, daß ich es bei dem von mir eingeſchlagenen Wege nicht habe vermeiden können, manche Punkte bereits oberflächlich zu berühren, die wir erſt ſpäter näher werden kennen lernen — was beiläufig geſagt ſich im Verlauf dieſes Buchs noch öfter wiederholen wird und bei der Natur des Themas, bei dem die Fäden des Geflechtes ſich beſtändig kreuzen, unvermeidlich iſt. Möge die Philoſophie nun immerhin ſich rühmen, uns die Selbſtändigkeit des Rechts in der Idee nachgewieſen zu haben: ein anderes Ding iſt es um das lebendige Recht der Wirklich- keit, ein anderes Ding um die Idee, dieſen Schatten, den das Recht der Wirklichkeit in die einſame Kammer des Philoſophen wirft. Denn jenes iſt hineingeſtellt mitten in die Strömung des Lebens, in den Kampf erbitterter Partheien und auf einander prallender Gegenſätze, ausgeſetzt dem Sturm der Leidenſchaften, die hier toben, beſtimmt, den Anforderungen, Intereſſen, Beſtre- bungen des Lebens gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten findet die der Idee des Rechts zukommende Selbſtändigkeit hier vor, um ſich geltend zu machen, welche Schwankungen ſtatt jenes ruhigen Gleichgewichts, in dem das Recht der Idee ſich befindet! Die zwei äußerſten Punkte, zwiſchen denen das Recht der Wirklichkeit beſtändig oscillirt, ſind das Extrem der Unſelbſtän- digkeit auf der einen, das Extrem der Selbſtändigkeit auf der andern Seite. Bei der Neigung nach jener Seite fehlt dem Recht, um es allgemein auszudrücken, das Vermögen der innern Selbſtbeſtimmung und die Kraft, äußere Einflüſſe, die ſeiner Natur widerſtreben, zurückzuweiſen, im Uebrigen aber kann dieſe Unſelbſtändigkeit ihrem Grade, ihrer Art und ihren Urſachen nach

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/35>, abgerufen am 21.11.2024.