Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz-tere sich am einfachsten in der Weise geben lassen, daß wir jene Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die sie gefaßt sein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerst einwenden, daß vieles in der Sitte bestand, wovon sich im geschriebenen Recht keine Spur fand. Dies ist allerdings unzweifelhaft, aber es relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn- heit als solcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege- ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des jus necis ac vitae von Seiten des Vaters die Verwandten zu- zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formlosen Aufla- gen des Testators an den Erben (die Fideicommisse) zu erfüllen: wer im einzelnen Fall sich über diese Sitte hinwegsetzen wollte, mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der einen Anspruch auf "das allgemein herrschende und in der Ge- wohnheit sich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit" hätte stützen wollen. Es ist nicht bedeutungslos, daß die Klagen des ältern Rechts legis actiones heißen, die des spätern Rechts actiones schlechthin. Eine lex ist die normale Grundlage einer jeden Klage des ältern Rechts,20) alle legis actiones beruhen auf Gesetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf spätern.21) Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im letzten Abschnitt dieses Buchs ins Auge fassen; sie war eine geschriebenen Rechts betrachtet worden sei, so spricht dies eher gegen, als für seine Meinung; und er selbst erkennt (S. 24) auch den "Vorzug des ge- setzlich niedergeschriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an- dere Recht angeschlossen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit identisches anerkannt wurde, andererseits aber eine sekundäre Stelle gegen das gesetzliche erhielt." Wir werden in §. 27 auf die interpre- tatio zurückkommen. 20) Gaj. IV. §. 11 ... quia legibus proditae erant. 21) Gaj. IV. §. 11--29. Nur die legis actio per pignoris capionem
stand in einem Fall moribus zu, Gaj. IV. §. 27, aber es ist nicht außer Acht zu lassen, daß sie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen werden mußte, Gaj. ibid. §. 29. I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz-tere ſich am einfachſten in der Weiſe geben laſſen, daß wir jene Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die ſie gefaßt ſein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerſt einwenden, daß vieles in der Sitte beſtand, wovon ſich im geſchriebenen Recht keine Spur fand. Dies iſt allerdings unzweifelhaft, aber es relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn- heit als ſolcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege- ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des jus necis ac vitae von Seiten des Vaters die Verwandten zu- zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formloſen Aufla- gen des Teſtators an den Erben (die Fideicommiſſe) zu erfüllen: wer im einzelnen Fall ſich über dieſe Sitte hinwegſetzen wollte, mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der einen Anſpruch auf „das allgemein herrſchende und in der Ge- wohnheit ſich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit“ hätte ſtützen wollen. Es iſt nicht bedeutungslos, daß die Klagen des ältern Rechts legis actiones heißen, die des ſpätern Rechts actiones ſchlechthin. Eine lex iſt die normale Grundlage einer jeden Klage des ältern Rechts,20) alle legis actiones beruhen auf Geſetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf ſpätern.21) Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im letzten Abſchnitt dieſes Buchs ins Auge faſſen; ſie war eine geſchriebenen Rechts betrachtet worden ſei, ſo ſpricht dies eher gegen, als für ſeine Meinung; und er ſelbſt erkennt (S. 24) auch den „Vorzug des ge- ſetzlich niedergeſchriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an- dere Recht angeſchloſſen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit identiſches anerkannt wurde, andererſeits aber eine ſekundäre Stelle gegen das geſetzliche erhielt.“ Wir werden in §. 27 auf die interpre- tatio zurückkommen. 20) Gaj. IV. §. 11 … quia legibus proditae erant. 21) Gaj. IV. §. 11—29. Nur die legis actio per pignoris capionem
ſtand in einem Fall moribus zu, Gaj. IV. §. 27, aber es iſt nicht außer Acht zu laſſen, daß ſie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen werden mußte, Gaj. ibid. §. 29. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0051" n="37"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.</fw><lb/> den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz-<lb/> tere ſich am einfachſten in der Weiſe geben laſſen, daß wir jene<lb/> Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die ſie gefaßt<lb/> ſein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerſt einwenden, daß<lb/> vieles in der Sitte beſtand, wovon ſich im geſchriebenen Recht<lb/> keine Spur fand. Dies iſt allerdings unzweifelhaft, aber es<lb/> relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn-<lb/> heit als ſolcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege-<lb/> ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des<lb/><hi rendition="#aq">jus necis ac vitae</hi> von Seiten des Vaters die Verwandten zu-<lb/> zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formloſen Aufla-<lb/> gen des Teſtators an den Erben (die Fideicommiſſe) zu erfüllen:<lb/> wer im einzelnen Fall ſich über dieſe Sitte hinwegſetzen wollte,<lb/> mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der<lb/> einen Anſpruch auf „das allgemein herrſchende und in der Ge-<lb/> wohnheit ſich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit“<lb/> hätte ſtützen wollen. Es iſt nicht bedeutungslos, daß die Klagen<lb/> des ältern Rechts <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">legis</hi> actiones</hi> heißen, die des ſpätern Rechts<lb/><hi rendition="#aq">actiones</hi> ſchlechthin. Eine <hi rendition="#aq">lex</hi> iſt die normale Grundlage einer<lb/> jeden Klage des ältern Rechts,<note place="foot" n="20)"><hi rendition="#aq">Gaj. IV. §. 11 … quia legibus proditae erant.</hi></note> alle <hi rendition="#aq">legis actiones</hi> beruhen auf<lb/> Geſetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf ſpätern.<note place="foot" n="21)"><hi rendition="#aq">Gaj. IV.</hi> §. 11—29. Nur die <hi rendition="#aq">legis actio per pignoris capionem</hi><lb/> ſtand in einem Fall <hi rendition="#aq">moribus</hi> zu, <hi rendition="#aq">Gaj. IV.</hi> §. 27, aber es iſt nicht außer Acht<lb/> zu laſſen, daß ſie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen<lb/> werden mußte, <hi rendition="#aq">Gaj. ibid.</hi> §. 29.</note><lb/> Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im<lb/> letzten Abſchnitt dieſes Buchs ins Auge faſſen; ſie war eine<lb/><note xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="19)">geſchriebenen Rechts betrachtet worden ſei, ſo ſpricht dies eher gegen, als<lb/> für ſeine Meinung; und er ſelbſt erkennt (S. 24) auch den „Vorzug des ge-<lb/> ſetzlich niedergeſchriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an-<lb/> dere Recht angeſchloſſen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit<lb/> identiſches anerkannt wurde, andererſeits aber eine <hi rendition="#g">ſekundäre Stelle<lb/> gegen das geſetzliche</hi> erhielt.“ Wir werden in §. 27 auf die <hi rendition="#aq">interpre-<lb/> tatio</hi> zurückkommen.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [37/0051]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz-
tere ſich am einfachſten in der Weiſe geben laſſen, daß wir jene
Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die ſie gefaßt
ſein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerſt einwenden, daß
vieles in der Sitte beſtand, wovon ſich im geſchriebenen Recht
keine Spur fand. Dies iſt allerdings unzweifelhaft, aber es
relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn-
heit als ſolcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege-
ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des
jus necis ac vitae von Seiten des Vaters die Verwandten zu-
zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formloſen Aufla-
gen des Teſtators an den Erben (die Fideicommiſſe) zu erfüllen:
wer im einzelnen Fall ſich über dieſe Sitte hinwegſetzen wollte,
mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der
einen Anſpruch auf „das allgemein herrſchende und in der Ge-
wohnheit ſich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit“
hätte ſtützen wollen. Es iſt nicht bedeutungslos, daß die Klagen
des ältern Rechts legis actiones heißen, die des ſpätern Rechts
actiones ſchlechthin. Eine lex iſt die normale Grundlage einer
jeden Klage des ältern Rechts, 20) alle legis actiones beruhen auf
Geſetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf ſpätern. 21)
Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im
letzten Abſchnitt dieſes Buchs ins Auge faſſen; ſie war eine
19)
20) Gaj. IV. §. 11 … quia legibus proditae erant.
21) Gaj. IV. §. 11—29. Nur die legis actio per pignoris capionem
ſtand in einem Fall moribus zu, Gaj. IV. §. 27, aber es iſt nicht außer Acht
zu laſſen, daß ſie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen
werden mußte, Gaj. ibid. §. 29.
19) geſchriebenen Rechts betrachtet worden ſei, ſo ſpricht dies eher gegen, als
für ſeine Meinung; und er ſelbſt erkennt (S. 24) auch den „Vorzug des ge-
ſetzlich niedergeſchriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an-
dere Recht angeſchloſſen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit
identiſches anerkannt wurde, andererſeits aber eine ſekundäre Stelle
gegen das geſetzliche erhielt.“ Wir werden in §. 27 auf die interpre-
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