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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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3. Die juristische Construction. §. 41.
tige Jurisprudenz gibt es in dieser Beziehung an der rein römi-
schen Theorie (also ganz abgesehen von den Aenderungen des
heutigen Rechts) noch viel zu ändern.522)

Die bisherige Erörterung hat unser zweites Gesetz bloß nach
der Seite hin verfolgt, nach der es uns vom Standpunkt der
altrömischen Technik aus interessirt, das Gesetz selbst reicht wei-
ter und wird namentlich für die systematische Classification höchst
wichtig, was ich hier jedoch nicht weiter ausführen darf.

Wenn wir die beiden Gesetze der juristischen Construction,
die wir bisher erörtert haben, in Gegensatz stellen wollen, so
können wir sagen, daß das erste im positiven, das zweite im
logischen Element wurzelt. Das Element des dritten und letz-
ten Gesetzes, zu dem ich jetzt übergehe, möchte ich als ästheti-
sches
bezeichnen.

3. Das Gesetz der juristischen Schönheit. Man wird
es für gesucht halten, wenn ich von einem juristischen Kunst-
oder Schönheitssinn spreche. Aber die Sache selbst bringt es
mit sich, und wenn man mir einmal verstattet hat, von einer
künstlerischen Gestaltung des Stoffs zu reden, so wird man
sich auch den Kunstsinn gefallen lassen müssen.523) Auf ihm

war, Zwang an. Die spätere Jurisprudenz gab hier nur der Wahrheit die
Ehre, indem sie eine traditio in incertam personam annahm, und damit
änderte sie in der That das obige Dogma; was bis dahin als juristisch un-
möglich galt, ward jetzt als möglich angenommen. Wie neuere Juristen den
Gegensatz beider Constructionen (bei der einen liegen zwei einseitige, bei der
andern Ein zweiseitiger Akt vor) übersehen und beide für vereinbar halten
konnten (als ob eine Tradition aus Dereliction und Occupation bestände!),
ist mir wahrhaft unbegreiflich.
522) Man nehme z. B. die erbrechtlichen Sätze: nemo pro parte testa-
tus etc., semel heres, semper heres
und so manche andere, die bereits zur
Zeit der klassischen Juristen mehr figurirten, als galten.
523) Den römischen Juristen schwebte dieselbe Vorstellung vor, sie kann-
ten ein juristisches Schönheitsgefühl und erkannten es als berechtigt an, man
denke z. B. an den Vorwurf einer inelegantia juris (bei Gajus I §. 84. 85)
und an das angebliche Gesetz der Symmetrie (L. 35 de R. J. 50. 17).

3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
tige Jurisprudenz gibt es in dieſer Beziehung an der rein römi-
ſchen Theorie (alſo ganz abgeſehen von den Aenderungen des
heutigen Rechts) noch viel zu ändern.522)

Die bisherige Erörterung hat unſer zweites Geſetz bloß nach
der Seite hin verfolgt, nach der es uns vom Standpunkt der
altrömiſchen Technik aus intereſſirt, das Geſetz ſelbſt reicht wei-
ter und wird namentlich für die ſyſtematiſche Claſſification höchſt
wichtig, was ich hier jedoch nicht weiter ausführen darf.

Wenn wir die beiden Geſetze der juriſtiſchen Conſtruction,
die wir bisher erörtert haben, in Gegenſatz ſtellen wollen, ſo
können wir ſagen, daß das erſte im poſitiven, das zweite im
logiſchen Element wurzelt. Das Element des dritten und letz-
ten Geſetzes, zu dem ich jetzt übergehe, möchte ich als äſtheti-
ſches
bezeichnen.

3. Das Geſetz der juriſtiſchen Schönheit. Man wird
es für geſucht halten, wenn ich von einem juriſtiſchen Kunſt-
oder Schönheitsſinn ſpreche. Aber die Sache ſelbſt bringt es
mit ſich, und wenn man mir einmal verſtattet hat, von einer
künſtleriſchen Geſtaltung des Stoffs zu reden, ſo wird man
ſich auch den Kunſtſinn gefallen laſſen müſſen.523) Auf ihm

war, Zwang an. Die ſpätere Jurisprudenz gab hier nur der Wahrheit die
Ehre, indem ſie eine traditio in incertam personam annahm, und damit
änderte ſie in der That das obige Dogma; was bis dahin als juriſtiſch un-
möglich galt, ward jetzt als möglich angenommen. Wie neuere Juriſten den
Gegenſatz beider Conſtructionen (bei der einen liegen zwei einſeitige, bei der
andern Ein zweiſeitiger Akt vor) überſehen und beide für vereinbar halten
konnten (als ob eine Tradition aus Dereliction und Occupation beſtände!),
iſt mir wahrhaft unbegreiflich.
522) Man nehme z. B. die erbrechtlichen Sätze: nemo pro parte testa-
tus etc., semel heres, semper heres
und ſo manche andere, die bereits zur
Zeit der klaſſiſchen Juriſten mehr figurirten, als galten.
523) Den römiſchen Juriſten ſchwebte dieſelbe Vorſtellung vor, ſie kann-
ten ein juriſtiſches Schönheitsgefühl und erkannten es als berechtigt an, man
denke z. B. an den Vorwurf einer inelegantia juris (bei Gajus I §. 84. 85)
und an das angebliche Geſetz der Symmetrie (L. 35 de R. J. 50. 17).
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[405/0111] 3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41. tige Jurisprudenz gibt es in dieſer Beziehung an der rein römi- ſchen Theorie (alſo ganz abgeſehen von den Aenderungen des heutigen Rechts) noch viel zu ändern. 522) Die bisherige Erörterung hat unſer zweites Geſetz bloß nach der Seite hin verfolgt, nach der es uns vom Standpunkt der altrömiſchen Technik aus intereſſirt, das Geſetz ſelbſt reicht wei- ter und wird namentlich für die ſyſtematiſche Claſſification höchſt wichtig, was ich hier jedoch nicht weiter ausführen darf. Wenn wir die beiden Geſetze der juriſtiſchen Conſtruction, die wir bisher erörtert haben, in Gegenſatz ſtellen wollen, ſo können wir ſagen, daß das erſte im poſitiven, das zweite im logiſchen Element wurzelt. Das Element des dritten und letz- ten Geſetzes, zu dem ich jetzt übergehe, möchte ich als äſtheti- ſches bezeichnen. 3. Das Geſetz der juriſtiſchen Schönheit. Man wird es für geſucht halten, wenn ich von einem juriſtiſchen Kunſt- oder Schönheitsſinn ſpreche. Aber die Sache ſelbſt bringt es mit ſich, und wenn man mir einmal verſtattet hat, von einer künſtleriſchen Geſtaltung des Stoffs zu reden, ſo wird man ſich auch den Kunſtſinn gefallen laſſen müſſen. 523) Auf ihm 521) 522) Man nehme z. B. die erbrechtlichen Sätze: nemo pro parte testa- tus etc., semel heres, semper heres und ſo manche andere, die bereits zur Zeit der klaſſiſchen Juriſten mehr figurirten, als galten. 523) Den römiſchen Juriſten ſchwebte dieſelbe Vorſtellung vor, ſie kann- ten ein juriſtiſches Schönheitsgefühl und erkannten es als berechtigt an, man denke z. B. an den Vorwurf einer inelegantia juris (bei Gajus I §. 84. 85) und an das angebliche Geſetz der Symmetrie (L. 35 de R. J. 50. 17). 521) war, Zwang an. Die ſpätere Jurisprudenz gab hier nur der Wahrheit die Ehre, indem ſie eine traditio in incertam personam annahm, und damit änderte ſie in der That das obige Dogma; was bis dahin als juriſtiſch un- möglich galt, ward jetzt als möglich angenommen. Wie neuere Juriſten den Gegenſatz beider Conſtructionen (bei der einen liegen zwei einſeitige, bei der andern Ein zweiſeitiger Akt vor) überſehen und beide für vereinbar halten konnten (als ob eine Tradition aus Dereliction und Occupation beſtände!), iſt mir wahrhaft unbegreiflich.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/111>, abgerufen am 14.05.2024.