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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
vorhanden zu sein scheint. Beide sind, wenn sie auch dieselbe
Quelle gemeinschaftlich haben, doch im übrigen völlig selbstän-
dig gegen einander; der Formalismus kann ohne die Wort-
interpretation vorkommen (man denke z. B. an unser heutiges
Testament) und umgekehrt letztere ohne ersteren (z. B. bei der
Interpretation der Gesetze).

Die gemeinsame Quelle, aus der beide hervorgehen, ist mei-
ner Ansicht nach das subjective Haften an der äußern
Erscheinung
. Beide charakterisiren sich nämlich durch die
Präponderanz des äußern über das innere Moment, der Form
über den Inhalt; die subjective Stimmung aber, die dieser ob-
jectiven Thatsache entspricht, und in der mithin ihr historisches
Motiv zu suchen ist, besteht in der Richtung des Geistes auf die
Aeußerlichkeit, der Sinnlichkeit der Anschauungsweise. Die
Richtigkeit dieser Auffassung rücksichtlich des Formalismus kann
erst in §. 45 nachgewiesen werden, rücksichtlich der Wortinter-
pretation, der unsere gegenwärtige Betrachtung gewidmet ist,
wird sie sich aus der folgenden Ausführung über das Verhält-
niß des Worts zum Gedanken
ergeben.

Die Art und Weise, wie das Wort den Gedankenaustausch
vermittelt, kann man sich in doppelter Weise denken, und auf
dieser Verschiedenheit beruht die Möglichkeit jener zwiefachen
Art der juristischen Interpretation, für die man den wenig zu-
treffenden Namen der grammatischen und logischen ge-
wählt hat. 610a)

Es klingt paradox, wenn ich die Frage aufwerfe, ob das
Wort überall im Stande ist, den Gedanken wieder zu geben,
und doch ist diese Frage nicht bloß zu erheben, sondern sogar zu
verneinen. Der Gedanke ist ein innerer Vorgang des subjecti-
ven Geisteslebens, eine Thätigkeit, Bewegung -- eine Denk-
welle
; eine Bewegung aber läßt sich nicht objectiviren. Nur

610a) Das Beste über diesen Unterschied findet sich bei Kierulff
Theorie des Civilrechts S. 21 fl., allein auf den letzten Grund desselben ist
auch er nicht eingegangen.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
vorhanden zu ſein ſcheint. Beide ſind, wenn ſie auch dieſelbe
Quelle gemeinſchaftlich haben, doch im übrigen völlig ſelbſtän-
dig gegen einander; der Formalismus kann ohne die Wort-
interpretation vorkommen (man denke z. B. an unſer heutiges
Teſtament) und umgekehrt letztere ohne erſteren (z. B. bei der
Interpretation der Geſetze).

Die gemeinſame Quelle, aus der beide hervorgehen, iſt mei-
ner Anſicht nach das ſubjective Haften an der äußern
Erſcheinung
. Beide charakteriſiren ſich nämlich durch die
Präponderanz des äußern über das innere Moment, der Form
über den Inhalt; die ſubjective Stimmung aber, die dieſer ob-
jectiven Thatſache entſpricht, und in der mithin ihr hiſtoriſches
Motiv zu ſuchen iſt, beſteht in der Richtung des Geiſtes auf die
Aeußerlichkeit, der Sinnlichkeit der Anſchauungsweiſe. Die
Richtigkeit dieſer Auffaſſung rückſichtlich des Formalismus kann
erſt in §. 45 nachgewieſen werden, rückſichtlich der Wortinter-
pretation, der unſere gegenwärtige Betrachtung gewidmet iſt,
wird ſie ſich aus der folgenden Ausführung über das Verhält-
niß des Worts zum Gedanken
ergeben.

Die Art und Weiſe, wie das Wort den Gedankenaustauſch
vermittelt, kann man ſich in doppelter Weiſe denken, und auf
dieſer Verſchiedenheit beruht die Möglichkeit jener zwiefachen
Art der juriſtiſchen Interpretation, für die man den wenig zu-
treffenden Namen der grammatiſchen und logiſchen ge-
wählt hat. 610a)

Es klingt paradox, wenn ich die Frage aufwerfe, ob das
Wort überall im Stande iſt, den Gedanken wieder zu geben,
und doch iſt dieſe Frage nicht bloß zu erheben, ſondern ſogar zu
verneinen. Der Gedanke iſt ein innerer Vorgang des ſubjecti-
ven Geiſteslebens, eine Thätigkeit, Bewegung — eine Denk-
welle
; eine Bewegung aber läßt ſich nicht objectiviren. Nur

610a) Das Beſte über dieſen Unterſchied findet ſich bei Kierulff
Theorie des Civilrechts S. 21 fl., allein auf den letzten Grund deſſelben iſt
auch er nicht eingegangen.
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[470/0176] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. vorhanden zu ſein ſcheint. Beide ſind, wenn ſie auch dieſelbe Quelle gemeinſchaftlich haben, doch im übrigen völlig ſelbſtän- dig gegen einander; der Formalismus kann ohne die Wort- interpretation vorkommen (man denke z. B. an unſer heutiges Teſtament) und umgekehrt letztere ohne erſteren (z. B. bei der Interpretation der Geſetze). Die gemeinſame Quelle, aus der beide hervorgehen, iſt mei- ner Anſicht nach das ſubjective Haften an der äußern Erſcheinung. Beide charakteriſiren ſich nämlich durch die Präponderanz des äußern über das innere Moment, der Form über den Inhalt; die ſubjective Stimmung aber, die dieſer ob- jectiven Thatſache entſpricht, und in der mithin ihr hiſtoriſches Motiv zu ſuchen iſt, beſteht in der Richtung des Geiſtes auf die Aeußerlichkeit, der Sinnlichkeit der Anſchauungsweiſe. Die Richtigkeit dieſer Auffaſſung rückſichtlich des Formalismus kann erſt in §. 45 nachgewieſen werden, rückſichtlich der Wortinter- pretation, der unſere gegenwärtige Betrachtung gewidmet iſt, wird ſie ſich aus der folgenden Ausführung über das Verhält- niß des Worts zum Gedanken ergeben. Die Art und Weiſe, wie das Wort den Gedankenaustauſch vermittelt, kann man ſich in doppelter Weiſe denken, und auf dieſer Verſchiedenheit beruht die Möglichkeit jener zwiefachen Art der juriſtiſchen Interpretation, für die man den wenig zu- treffenden Namen der grammatiſchen und logiſchen ge- wählt hat. 610a) Es klingt paradox, wenn ich die Frage aufwerfe, ob das Wort überall im Stande iſt, den Gedanken wieder zu geben, und doch iſt dieſe Frage nicht bloß zu erheben, ſondern ſogar zu verneinen. Der Gedanke iſt ein innerer Vorgang des ſubjecti- ven Geiſteslebens, eine Thätigkeit, Bewegung — eine Denk- welle; eine Bewegung aber läßt ſich nicht objectiviren. Nur 610a) Das Beſte über dieſen Unterſchied findet ſich bei Kierulff Theorie des Civilrechts S. 21 fl., allein auf den letzten Grund deſſelben iſt auch er nicht eingegangen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/176>, abgerufen am 12.05.2024.