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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
dings spielt auch hier das Wort eine große Rolle, allein fast in
ähnlicher Weise, wie die Auspicien (B. 1 S. 327 u. fl.) d. h.
die einer principiell anerkannten und respectirten, aber, so wie
sie mit gebieterischen Bedürfnissen des Lebens in Widerspruch
tritt, auf irgend eine Weise gefügig gemachten Autorität.

Wenn man sich die von der Interpretation der alten Ge-
setze, namentlich der Zwölf Tafeln uns erhaltenen Beispiele ver-
gegenwärtigt, so kann man sich kaum des Eindrucks erwehren,
daß die alte Jurisprudenz bei Auslegung der Gesetze streng im
Geist der Wortinterpretation verfahren sei, und ich glaube nichts
nutzloses zu thun, wenn ich einige der schlagendsten Fälle her-
vorhebe.

Ich beginne mit den wenigen Worten der Zwölf Tafeln über
das Intestaterbrecht. Sie lauten: Si intestato moritur, cui
suus heres nec escit, agnatus proximus familiam habeto, si
agnatus nec escit, gentiles familiam habento.
Fast jedes Wort
ist hier die Quelle eines wichtigen Rechtssatzes geworden und
zwar eines Rechtssatzes, an den der Gesetzgeber selbst gar nicht
gedacht hat, der also nicht in seinem Willen, sondern nur in
dem Wort seinen Grund hat. Zuerst das Wort: intestato.
Aus ihm folgerte man, daß wenn die Erbschaft nur von einem
der mehren Testamentserben angetreten, die ausfallenden Theile
nicht, wie man erwarten könnte, an die Intestaterben gelang-
ten, denn die Bedingung, unter der sie gerufen, war das in-
testato
mori
des Erblassers; wessen Erbschaft aber auch nur
von einem der mehren Testamentserben angetreten war, von
dem ließ sich nicht behaupten, daß er intestatus gestorben
sei. Sodann das Wort: moritur. Hierauf stützte man das
Requisit, daß wer zur Erbschaft gelangen wolle, im Moment
des Todes des Erblassers (wenn auch nur im Mutterleibe) exi-
stirt haben müsse. 622) Ferner: agnatus proximus. Das

622) L. 6 de suis (38. 16) lex XII tabul. eum vocat ad heredita-
tem, qui moriente eo, de cujus bonis quaeritur, in rerum natura

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
dings ſpielt auch hier das Wort eine große Rolle, allein faſt in
ähnlicher Weiſe, wie die Auſpicien (B. 1 S. 327 u. fl.) d. h.
die einer principiell anerkannten und reſpectirten, aber, ſo wie
ſie mit gebieteriſchen Bedürfniſſen des Lebens in Widerſpruch
tritt, auf irgend eine Weiſe gefügig gemachten Autorität.

Wenn man ſich die von der Interpretation der alten Ge-
ſetze, namentlich der Zwölf Tafeln uns erhaltenen Beiſpiele ver-
gegenwärtigt, ſo kann man ſich kaum des Eindrucks erwehren,
daß die alte Jurisprudenz bei Auslegung der Geſetze ſtreng im
Geiſt der Wortinterpretation verfahren ſei, und ich glaube nichts
nutzloſes zu thun, wenn ich einige der ſchlagendſten Fälle her-
vorhebe.

Ich beginne mit den wenigen Worten der Zwölf Tafeln über
das Inteſtaterbrecht. Sie lauten: Si intestato moritur, cui
suus heres nec escit, agnatus proximus familiam habeto, si
agnatus nec escit, gentiles familiam habento.
Faſt jedes Wort
iſt hier die Quelle eines wichtigen Rechtsſatzes geworden und
zwar eines Rechtsſatzes, an den der Geſetzgeber ſelbſt gar nicht
gedacht hat, der alſo nicht in ſeinem Willen, ſondern nur in
dem Wort ſeinen Grund hat. Zuerſt das Wort: intestato.
Aus ihm folgerte man, daß wenn die Erbſchaft nur von einem
der mehren Teſtamentserben angetreten, die ausfallenden Theile
nicht, wie man erwarten könnte, an die Inteſtaterben gelang-
ten, denn die Bedingung, unter der ſie gerufen, war das in-
testato
mori
des Erblaſſers; weſſen Erbſchaft aber auch nur
von einem der mehren Teſtamentserben angetreten war, von
dem ließ ſich nicht behaupten, daß er intestatus geſtorben
ſei. Sodann das Wort: moritur. Hierauf ſtützte man das
Requiſit, daß wer zur Erbſchaft gelangen wolle, im Moment
des Todes des Erblaſſers (wenn auch nur im Mutterleibe) exi-
ſtirt haben müſſe. 622) Ferner: agnatus proximus. Das

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[482/0188] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. dings ſpielt auch hier das Wort eine große Rolle, allein faſt in ähnlicher Weiſe, wie die Auſpicien (B. 1 S. 327 u. fl.) d. h. die einer principiell anerkannten und reſpectirten, aber, ſo wie ſie mit gebieteriſchen Bedürfniſſen des Lebens in Widerſpruch tritt, auf irgend eine Weiſe gefügig gemachten Autorität. Wenn man ſich die von der Interpretation der alten Ge- ſetze, namentlich der Zwölf Tafeln uns erhaltenen Beiſpiele ver- gegenwärtigt, ſo kann man ſich kaum des Eindrucks erwehren, daß die alte Jurisprudenz bei Auslegung der Geſetze ſtreng im Geiſt der Wortinterpretation verfahren ſei, und ich glaube nichts nutzloſes zu thun, wenn ich einige der ſchlagendſten Fälle her- vorhebe. Ich beginne mit den wenigen Worten der Zwölf Tafeln über das Inteſtaterbrecht. Sie lauten: Si intestato moritur, cui suus heres nec escit, agnatus proximus familiam habeto, si agnatus nec escit, gentiles familiam habento. Faſt jedes Wort iſt hier die Quelle eines wichtigen Rechtsſatzes geworden und zwar eines Rechtsſatzes, an den der Geſetzgeber ſelbſt gar nicht gedacht hat, der alſo nicht in ſeinem Willen, ſondern nur in dem Wort ſeinen Grund hat. Zuerſt das Wort: intestato. Aus ihm folgerte man, daß wenn die Erbſchaft nur von einem der mehren Teſtamentserben angetreten, die ausfallenden Theile nicht, wie man erwarten könnte, an die Inteſtaterben gelang- ten, denn die Bedingung, unter der ſie gerufen, war das in- testato mori des Erblaſſers; weſſen Erbſchaft aber auch nur von einem der mehren Teſtamentserben angetreten war, von dem ließ ſich nicht behaupten, daß er intestatus geſtorben ſei. Sodann das Wort: moritur. Hierauf ſtützte man das Requiſit, daß wer zur Erbſchaft gelangen wolle, im Moment des Todes des Erblaſſers (wenn auch nur im Mutterleibe) exi- ſtirt haben müſſe. 622) Ferner: agnatus proximus. Das 622) L. 6 de suis (38. 16) lex XII tabul. eum vocat ad heredita- tem, qui moriente eo, de cujus bonis quaeritur, in rerum natura

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/188>, abgerufen am 13.05.2024.