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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Form dem menschlichen Geiste darbietet, ist maßgebend für
die specielle Gestaltung, die sie bei den verschiedenen Völkern
und auf den verschiedenen Culturstufen sowohl als auf den ver-
schiedenen Gebieten, Kreisen, Sphären des menschlichen Den-
kens, Fühlens und Lebens annimmt. Die Formen bei einem
Volk von überwiegend verständiger Art tragen einen andern
Charakter, als die bei einem mehr poetischen, die des Rechts
einen andern, als die des religiösen Cultus. Dazu gesellen
sich sodann noch gewisse der Form an sich fremde Elemente: der
mehr conservative oder bewegliche Charakter des Volkes oder
Kreises, bei dem sie gelten, die äußeren Verhältnisse desselben,
die locale Abgeschiedenheit (z. B. der Bergleute), die absichtliche
Absperrung desselben (z. B. die der Zünfte in den letztverflosse-
nen Jahrhunderten) und endlich der Einfluß der Religion
(Katholicismus und Calvinismus).

Ich wende mich jetzt einer Erscheinung zu, welche für die
richtige Einsicht in das Wesen und die Motive des Formalis-
mus im höchsten Grade lehrreich ist und, wenn irgend etwas,
von der Macht, die meiner Behauptung zufolge die Form auf
das menschliche Gemüth ausübt, Zeugniß ablegt. Es ist dies
die Entstehung, beziehungsweise Fortdauer der Formen, die
von vornherein aller Bedeutung entbehrten, beziehungsweise
dieselbe verloren haben -- also der reine, nackte Cultus der
Form als solcher.

In der römischen Welt, sowohl im Recht, als in der Sitte
des Lebens und dem religiösen Ritus, und im heutigen Eng-
land begegnet uns namentlich häufig eine Art von Formen, die
ich residuäre nennen will. Die Formbildung erfolgte bei
ihnen auf die Weise, daß Einrichtungen, Handlungen, Ge-
bräuche oder Elemente derselben, die bis dahin durchaus keinen
formellen Charakter hatten, vielmehr durch die damaligen Zu-
stände des Lebens, durch den Stand der Fabrication, des Ge-
werbes, Landbaus, durch die Mode u. s. w. gegeben und ge-
boten waren, für gewisse Gelegenheiten und Verhältnisse als

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Form dem menſchlichen Geiſte darbietet, iſt maßgebend für
die ſpecielle Geſtaltung, die ſie bei den verſchiedenen Völkern
und auf den verſchiedenen Culturſtufen ſowohl als auf den ver-
ſchiedenen Gebieten, Kreiſen, Sphären des menſchlichen Den-
kens, Fühlens und Lebens annimmt. Die Formen bei einem
Volk von überwiegend verſtändiger Art tragen einen andern
Charakter, als die bei einem mehr poetiſchen, die des Rechts
einen andern, als die des religiöſen Cultus. Dazu geſellen
ſich ſodann noch gewiſſe der Form an ſich fremde Elemente: der
mehr conſervative oder bewegliche Charakter des Volkes oder
Kreiſes, bei dem ſie gelten, die äußeren Verhältniſſe deſſelben,
die locale Abgeſchiedenheit (z. B. der Bergleute), die abſichtliche
Abſperrung deſſelben (z. B. die der Zünfte in den letztverfloſſe-
nen Jahrhunderten) und endlich der Einfluß der Religion
(Katholicismus und Calvinismus).

Ich wende mich jetzt einer Erſcheinung zu, welche für die
richtige Einſicht in das Weſen und die Motive des Formalis-
mus im höchſten Grade lehrreich iſt und, wenn irgend etwas,
von der Macht, die meiner Behauptung zufolge die Form auf
das menſchliche Gemüth ausübt, Zeugniß ablegt. Es iſt dies
die Entſtehung, beziehungsweiſe Fortdauer der Formen, die
von vornherein aller Bedeutung entbehrten, beziehungsweiſe
dieſelbe verloren haben — alſo der reine, nackte Cultus der
Form als ſolcher.

In der römiſchen Welt, ſowohl im Recht, als in der Sitte
des Lebens und dem religiöſen Ritus, und im heutigen Eng-
land begegnet uns namentlich häufig eine Art von Formen, die
ich reſiduäre nennen will. Die Formbildung erfolgte bei
ihnen auf die Weiſe, daß Einrichtungen, Handlungen, Ge-
bräuche oder Elemente derſelben, die bis dahin durchaus keinen
formellen Charakter hatten, vielmehr durch die damaligen Zu-
ſtände des Lebens, durch den Stand der Fabrication, des Ge-
werbes, Landbaus, durch die Mode u. ſ. w. gegeben und ge-
boten waren, für gewiſſe Gelegenheiten und Verhältniſſe als

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[537/0243] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. Form dem menſchlichen Geiſte darbietet, iſt maßgebend für die ſpecielle Geſtaltung, die ſie bei den verſchiedenen Völkern und auf den verſchiedenen Culturſtufen ſowohl als auf den ver- ſchiedenen Gebieten, Kreiſen, Sphären des menſchlichen Den- kens, Fühlens und Lebens annimmt. Die Formen bei einem Volk von überwiegend verſtändiger Art tragen einen andern Charakter, als die bei einem mehr poetiſchen, die des Rechts einen andern, als die des religiöſen Cultus. Dazu geſellen ſich ſodann noch gewiſſe der Form an ſich fremde Elemente: der mehr conſervative oder bewegliche Charakter des Volkes oder Kreiſes, bei dem ſie gelten, die äußeren Verhältniſſe deſſelben, die locale Abgeſchiedenheit (z. B. der Bergleute), die abſichtliche Abſperrung deſſelben (z. B. die der Zünfte in den letztverfloſſe- nen Jahrhunderten) und endlich der Einfluß der Religion (Katholicismus und Calvinismus). Ich wende mich jetzt einer Erſcheinung zu, welche für die richtige Einſicht in das Weſen und die Motive des Formalis- mus im höchſten Grade lehrreich iſt und, wenn irgend etwas, von der Macht, die meiner Behauptung zufolge die Form auf das menſchliche Gemüth ausübt, Zeugniß ablegt. Es iſt dies die Entſtehung, beziehungsweiſe Fortdauer der Formen, die von vornherein aller Bedeutung entbehrten, beziehungsweiſe dieſelbe verloren haben — alſo der reine, nackte Cultus der Form als ſolcher. In der römiſchen Welt, ſowohl im Recht, als in der Sitte des Lebens und dem religiöſen Ritus, und im heutigen Eng- land begegnet uns namentlich häufig eine Art von Formen, die ich reſiduäre nennen will. Die Formbildung erfolgte bei ihnen auf die Weiſe, daß Einrichtungen, Handlungen, Ge- bräuche oder Elemente derſelben, die bis dahin durchaus keinen formellen Charakter hatten, vielmehr durch die damaligen Zu- ſtände des Lebens, durch den Stand der Fabrication, des Ge- werbes, Landbaus, durch die Mode u. ſ. w. gegeben und ge- boten waren, für gewiſſe Gelegenheiten und Verhältniſſe als

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/243>, abgerufen am 25.11.2024.