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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Formen verkörpert haben, denn die Form hat, wie alles Niedere
im Vergleich zum Höheren, eine zähere Lebenskraft; sie kann,
was die Idee nicht kann: vegetiren d. h. fort dauern
ohne Verständniß. Als ein gleichgültiges Stück des äußern Le-
bens beibehalten, nachdem die Ideen selbst, die sie ausdrücken
soll, gewichen, gedankenlos fortgeführt, vegetirt sie fort, inner-
lich hohl und leer und scheinbar ohne allen Werth. Da erheben
sich denn nicht selten die Klugen und Gescheuten und nennen
das ganze Wesen Lug und Trug und begehren, daß was ver-
fault und innerlich todt, auch begraben werden solle. Aber
wo ein Volk jenen Sinn und jene Empfänglichkeit für die Form
besitzt, die ich oben als Formensinn bezeichnet habe, läßt es
nichts desto weniger im richtigen Instinct von der als todt ge-
schmählten Form nicht so leicht ab. Und mit Recht! Denn
jener angebliche Tod der Form, jene innere Entseelung dersel-
ben ist mitunter nur ein Scheintod -- ein Winterschlaf in öder,
dürrer Zeit, dem das erste Wehen des Frühlingshauchs ein Ende
macht. Auf der "todten" Form beruht hier die ganze Hoff-
nung des Lebens. Sie abzuthun heißt unter diesen Umstän-
den nicht einen entseelten Körper bestatten, sondern die Larve
zerstören, die den Schmetterling in sich birgt.

In diesen Lagen also, wo die Form scheinbar allen und jeden
Werth verloren, entfaltet sie umgekehrt ihre höchste Brauchbar-
keit, leistet sie der Idee den unschätzbarsten Dienst. Das Fort-
vegetiren der Form wird hier in den Händen der Geschichte das
specifische Mittel, um die Möglichkeit des Wiederanknüpfens,
die Continuität der historischen Entwicklung zu
sichern
. Möge immerhin in den bei weitem meisten Fällen
was todt scheint, auch todt sein und bleiben, der Geist und das
Leben nie wieder in die entseelten Formen zurückkehren -- wer
die Gefahr, den Scheintod für den Tod anzusehen, vermeiden
will, kann es nur um den Preis, daß er im zweifelhaften Fall
den Tod als Scheintod nimmt.

Die bisherige Ausführung hat uns gelehrt -- und ich fasse

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Formen verkörpert haben, denn die Form hat, wie alles Niedere
im Vergleich zum Höheren, eine zähere Lebenskraft; ſie kann,
was die Idee nicht kann: vegetiren d. h. fort dauern
ohne Verſtändniß. Als ein gleichgültiges Stück des äußern Le-
bens beibehalten, nachdem die Ideen ſelbſt, die ſie ausdrücken
ſoll, gewichen, gedankenlos fortgeführt, vegetirt ſie fort, inner-
lich hohl und leer und ſcheinbar ohne allen Werth. Da erheben
ſich denn nicht ſelten die Klugen und Geſcheuten und nennen
das ganze Weſen Lug und Trug und begehren, daß was ver-
fault und innerlich todt, auch begraben werden ſolle. Aber
wo ein Volk jenen Sinn und jene Empfänglichkeit für die Form
beſitzt, die ich oben als Formenſinn bezeichnet habe, läßt es
nichts deſto weniger im richtigen Inſtinct von der als todt ge-
ſchmählten Form nicht ſo leicht ab. Und mit Recht! Denn
jener angebliche Tod der Form, jene innere Entſeelung derſel-
ben iſt mitunter nur ein Scheintod — ein Winterſchlaf in öder,
dürrer Zeit, dem das erſte Wehen des Frühlingshauchs ein Ende
macht. Auf der „todten“ Form beruht hier die ganze Hoff-
nung des Lebens. Sie abzuthun heißt unter dieſen Umſtän-
den nicht einen entſeelten Körper beſtatten, ſondern die Larve
zerſtören, die den Schmetterling in ſich birgt.

In dieſen Lagen alſo, wo die Form ſcheinbar allen und jeden
Werth verloren, entfaltet ſie umgekehrt ihre höchſte Brauchbar-
keit, leiſtet ſie der Idee den unſchätzbarſten Dienſt. Das Fort-
vegetiren der Form wird hier in den Händen der Geſchichte das
ſpecifiſche Mittel, um die Möglichkeit des Wiederanknüpfens,
die Continuität der hiſtoriſchen Entwicklung zu
ſichern
. Möge immerhin in den bei weitem meiſten Fällen
was todt ſcheint, auch todt ſein und bleiben, der Geiſt und das
Leben nie wieder in die entſeelten Formen zurückkehren — wer
die Gefahr, den Scheintod für den Tod anzuſehen, vermeiden
will, kann es nur um den Preis, daß er im zweifelhaften Fall
den Tod als Scheintod nimmt.

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[544/0250] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. Formen verkörpert haben, denn die Form hat, wie alles Niedere im Vergleich zum Höheren, eine zähere Lebenskraft; ſie kann, was die Idee nicht kann: vegetiren d. h. fort dauern ohne Verſtändniß. Als ein gleichgültiges Stück des äußern Le- bens beibehalten, nachdem die Ideen ſelbſt, die ſie ausdrücken ſoll, gewichen, gedankenlos fortgeführt, vegetirt ſie fort, inner- lich hohl und leer und ſcheinbar ohne allen Werth. Da erheben ſich denn nicht ſelten die Klugen und Geſcheuten und nennen das ganze Weſen Lug und Trug und begehren, daß was ver- fault und innerlich todt, auch begraben werden ſolle. Aber wo ein Volk jenen Sinn und jene Empfänglichkeit für die Form beſitzt, die ich oben als Formenſinn bezeichnet habe, läßt es nichts deſto weniger im richtigen Inſtinct von der als todt ge- ſchmählten Form nicht ſo leicht ab. Und mit Recht! Denn jener angebliche Tod der Form, jene innere Entſeelung derſel- ben iſt mitunter nur ein Scheintod — ein Winterſchlaf in öder, dürrer Zeit, dem das erſte Wehen des Frühlingshauchs ein Ende macht. Auf der „todten“ Form beruht hier die ganze Hoff- nung des Lebens. Sie abzuthun heißt unter dieſen Umſtän- den nicht einen entſeelten Körper beſtatten, ſondern die Larve zerſtören, die den Schmetterling in ſich birgt. In dieſen Lagen alſo, wo die Form ſcheinbar allen und jeden Werth verloren, entfaltet ſie umgekehrt ihre höchſte Brauchbar- keit, leiſtet ſie der Idee den unſchätzbarſten Dienſt. Das Fort- vegetiren der Form wird hier in den Händen der Geſchichte das ſpecifiſche Mittel, um die Möglichkeit des Wiederanknüpfens, die Continuität der hiſtoriſchen Entwicklung zu ſichern. Möge immerhin in den bei weitem meiſten Fällen was todt ſcheint, auch todt ſein und bleiben, der Geiſt und das Leben nie wieder in die entſeelten Formen zurückkehren — wer die Gefahr, den Scheintod für den Tod anzuſehen, vermeiden will, kann es nur um den Preis, daß er im zweifelhaften Fall den Tod als Scheintod nimmt. Die bisherige Ausführung hat uns gelehrt — und ich faſſe

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/250>, abgerufen am 24.11.2024.