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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Was hier zufälligerweise nachweisbar ist -- und es ist dies erst
seit Auffindung des Gajus -- wird sich auch in andern Fällen
wiederholt haben, von denen uns keine Kunde aufbewahrt ist.
Solche Beobachtungen mahnen aber zur Vorsicht und Kritik in
der Benutzung des Materials.

Auf welche Unterlage kann diese Kritik sich stützen? Das
Formelnwesen beschränkte sich, wie ich früher bemerkt habe, kei-
neswegs auf den Proceß und das Privatrecht, sondern erstreckte
sich auch auf das öffentliche und geistliche Recht und die Reli-
gion, und zwar entstammte es nach allen diesen Anwendungen
hin einer und derselben Hand: der der Pontifices (§. 42).
Dies ist ein höchst wichtiger Umstand. Denn er erschließt uns
für unser Unternehmen eine reichhaltige Quelle des Materials,
er verstattet uns, die Lücken des einen Zweiges aus dem an-
dern zu ergänzen, er gibt der ganzen Untersuchung mehr Halt
und Festigkeit. Besonders werthvoll wird er aber dadurch, daß
gerade jene Anwendungsgebiete des Formalismus, die uns zu-
nächst nicht interessiren, Formeln aufzuweisen haben, welche
unläugbar in das früheste Alterthum hinaufreichen, wie z. B.
die von Livius mitgetheilten des jus fetiale (s. u.). Legen wir
diese und andere unserer Untersuchung zu Grunde, so wird es
uns gelingen, uns des wesentlichen Kerns des alten Formeln-
wesens zu bemächtigen, und was von den Formeln oder auf sie
bezüglichen Erscheinungen der spätern Zeit mit ihm im entschie-
denen Widerspruch steht, von dem werden wir behaupten dür-

mel: liber esto aus Ulpian II, 7, auch die: liberum esse jubeo in den
Text gesetzt haben. Letztere war hier sowohl als beim Legate und der Erbes-
einsetzung jüngern Ursprunges: L. 52 de man. test. (40. 4). Wären unter
den "imperatores" dieser Stelle auch nicht Sever und Caracalla, sondern
Mark Aurel mit seinem Bruder oder Sohn zu verstehen, hätte also die hier
erwähnte Constitution dem Gajus bekannt sein können, so würde er hier so
wenig wie bei der Erbeseinsetzung den so neuen Ursprung dieser Formel zu
erwähnen nicht unterlassen haben. Es zeigt sich hier, wie mißlich es ist, For-
meln
ohne handschriftliche Autorität in den Text aufzunehmen; in unserm
Fall hat man dem Gajus geradezu einen Anachronismus aufgebürdet.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Was hier zufälligerweiſe nachweisbar iſt — und es iſt dies erſt
ſeit Auffindung des Gajus — wird ſich auch in andern Fällen
wiederholt haben, von denen uns keine Kunde aufbewahrt iſt.
Solche Beobachtungen mahnen aber zur Vorſicht und Kritik in
der Benutzung des Materials.

Auf welche Unterlage kann dieſe Kritik ſich ſtützen? Das
Formelnweſen beſchränkte ſich, wie ich früher bemerkt habe, kei-
neswegs auf den Proceß und das Privatrecht, ſondern erſtreckte
ſich auch auf das öffentliche und geiſtliche Recht und die Reli-
gion, und zwar entſtammte es nach allen dieſen Anwendungen
hin einer und derſelben Hand: der der Pontifices (§. 42).
Dies iſt ein höchſt wichtiger Umſtand. Denn er erſchließt uns
für unſer Unternehmen eine reichhaltige Quelle des Materials,
er verſtattet uns, die Lücken des einen Zweiges aus dem an-
dern zu ergänzen, er gibt der ganzen Unterſuchung mehr Halt
und Feſtigkeit. Beſonders werthvoll wird er aber dadurch, daß
gerade jene Anwendungsgebiete des Formalismus, die uns zu-
nächſt nicht intereſſiren, Formeln aufzuweiſen haben, welche
unläugbar in das früheſte Alterthum hinaufreichen, wie z. B.
die von Livius mitgetheilten des jus fetiale (ſ. u.). Legen wir
dieſe und andere unſerer Unterſuchung zu Grunde, ſo wird es
uns gelingen, uns des weſentlichen Kerns des alten Formeln-
weſens zu bemächtigen, und was von den Formeln oder auf ſie
bezüglichen Erſcheinungen der ſpätern Zeit mit ihm im entſchie-
denen Widerſpruch ſteht, von dem werden wir behaupten dür-

mel: liber esto aus Ulpian II, 7, auch die: liberum esse jubeo in den
Text geſetzt haben. Letztere war hier ſowohl als beim Legate und der Erbes-
einſetzung jüngern Urſprunges: L. 52 de man. test. (40. 4). Wären unter
den „imperatores“ dieſer Stelle auch nicht Sever und Caracalla, ſondern
Mark Aurel mit ſeinem Bruder oder Sohn zu verſtehen, hätte alſo die hier
erwähnte Conſtitution dem Gajus bekannt ſein können, ſo würde er hier ſo
wenig wie bei der Erbeseinſetzung den ſo neuen Urſprung dieſer Formel zu
erwähnen nicht unterlaſſen haben. Es zeigt ſich hier, wie mißlich es iſt, For-
meln
ohne handſchriftliche Autorität in den Text aufzunehmen; in unſerm
Fall hat man dem Gajus geradezu einen Anachronismus aufgebürdet.
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[610/0316] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. Was hier zufälligerweiſe nachweisbar iſt — und es iſt dies erſt ſeit Auffindung des Gajus — wird ſich auch in andern Fällen wiederholt haben, von denen uns keine Kunde aufbewahrt iſt. Solche Beobachtungen mahnen aber zur Vorſicht und Kritik in der Benutzung des Materials. Auf welche Unterlage kann dieſe Kritik ſich ſtützen? Das Formelnweſen beſchränkte ſich, wie ich früher bemerkt habe, kei- neswegs auf den Proceß und das Privatrecht, ſondern erſtreckte ſich auch auf das öffentliche und geiſtliche Recht und die Reli- gion, und zwar entſtammte es nach allen dieſen Anwendungen hin einer und derſelben Hand: der der Pontifices (§. 42). Dies iſt ein höchſt wichtiger Umſtand. Denn er erſchließt uns für unſer Unternehmen eine reichhaltige Quelle des Materials, er verſtattet uns, die Lücken des einen Zweiges aus dem an- dern zu ergänzen, er gibt der ganzen Unterſuchung mehr Halt und Feſtigkeit. Beſonders werthvoll wird er aber dadurch, daß gerade jene Anwendungsgebiete des Formalismus, die uns zu- nächſt nicht intereſſiren, Formeln aufzuweiſen haben, welche unläugbar in das früheſte Alterthum hinaufreichen, wie z. B. die von Livius mitgetheilten des jus fetiale (ſ. u.). Legen wir dieſe und andere unſerer Unterſuchung zu Grunde, ſo wird es uns gelingen, uns des weſentlichen Kerns des alten Formeln- weſens zu bemächtigen, und was von den Formeln oder auf ſie bezüglichen Erſcheinungen der ſpätern Zeit mit ihm im entſchie- denen Widerſpruch ſteht, von dem werden wir behaupten dür- 793) 793) mel: liber esto aus Ulpian II, 7, auch die: liberum esse jubeo in den Text geſetzt haben. Letztere war hier ſowohl als beim Legate und der Erbes- einſetzung jüngern Urſprunges: L. 52 de man. test. (40. 4). Wären unter den „imperatores“ dieſer Stelle auch nicht Sever und Caracalla, ſondern Mark Aurel mit ſeinem Bruder oder Sohn zu verſtehen, hätte alſo die hier erwähnte Conſtitution dem Gajus bekannt ſein können, ſo würde er hier ſo wenig wie bei der Erbeseinſetzung den ſo neuen Urſprung dieſer Formel zu erwähnen nicht unterlaſſen haben. Es zeigt ſich hier, wie mißlich es iſt, For- meln ohne handſchriftliche Autorität in den Text aufzunehmen; in unſerm Fall hat man dem Gajus geradezu einen Anachronismus aufgebürdet.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/316>, abgerufen am 21.11.2024.