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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
diese Klage bereits im fünften Jahrhundert, also noch geraume
Zeit vor seiner Aufhebung verstummen.

Dagegen litt er an einem andern Mangel, der, wenn auch
von den Römern selbst mit keiner Silbe erwähnt, doch von der
Geschichte in unzweifelhafter Weise documentirt ist.

Es steht unter allen Kundigen fest, daß mit dem Formular-
proceß eine neue Aera für das römische Recht datirt -- ich
meine nicht etwa bloß den Proceß, sondern auch das materielle
Recht. Erst von diesem Zeitpunkt an beginnt jene Rechtsquelle
zu fließen, die für das ganze Recht eine Quelle neuen Lebens
werden sollte -- das prätorische Edict. 896) Es ist nicht Zufall,
daß dies erst jetzt geschah; das Legisactionen-System und das
Edict waren unverträglich mit einander. Im alten Proceß waren
dem Prätor die Hände gebunden, er war nichts als ein Stück
der Maschine 897) -- er in ihrer Gewalt, sie nicht in der sei-
nigen
; erst das Formularverfahren gewährte ihm jene Freiheit
der Bewegung, die eine wesentliche Bedingung seiner rechtsbild-
nerischen Thätigkeit war. Nicht viel anders verhält es sich mit
der Jurisprudenz und dem Gewohnheitsrecht; auch sie waren
durch den alten Proceß in enge Gränzen gewiesen. Diesen be-
engenden und lähmenden Einfluß des alten Systems nachzuwei-
sen, ist Gegenstand der folgenden Darstellung.

Worauf beruhte er? Nicht bloß auf dem rein processualischen
Element des alten Verfahrens. Wäre das Princip der Legis-
actio ein rein processualisches gewesen, hätte die Gebundenheit
und Unfreiheit sich lediglich auf den Gang und die Formen des
Verfahrens beschränkt, das materielle Recht würde dadurch in
seiner Entwickelung nicht in solchem Maße beeinträchtigt wor-
den sein. Die durch den Formularproceß gewährte Elasticität

896) Gaj. IV, 11: quippe tunc edicta Praetoris, quibus complures
actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur.
897) Cic. pro Mur. c. 12: Praetor interea, ne pulchrum se ac bea-
tum putaret atque aliquid ipse sua sponte loqueretur, ei quoque
carmen compositum est.

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
dieſe Klage bereits im fünften Jahrhundert, alſo noch geraume
Zeit vor ſeiner Aufhebung verſtummen.

Dagegen litt er an einem andern Mangel, der, wenn auch
von den Römern ſelbſt mit keiner Silbe erwähnt, doch von der
Geſchichte in unzweifelhafter Weiſe documentirt iſt.

Es ſteht unter allen Kundigen feſt, daß mit dem Formular-
proceß eine neue Aera für das römiſche Recht datirt — ich
meine nicht etwa bloß den Proceß, ſondern auch das materielle
Recht. Erſt von dieſem Zeitpunkt an beginnt jene Rechtsquelle
zu fließen, die für das ganze Recht eine Quelle neuen Lebens
werden ſollte — das prätoriſche Edict. 896) Es iſt nicht Zufall,
daß dies erſt jetzt geſchah; das Legisactionen-Syſtem und das
Edict waren unverträglich mit einander. Im alten Proceß waren
dem Prätor die Hände gebunden, er war nichts als ein Stück
der Maſchine 897) — er in ihrer Gewalt, ſie nicht in der ſei-
nigen
; erſt das Formularverfahren gewährte ihm jene Freiheit
der Bewegung, die eine weſentliche Bedingung ſeiner rechtsbild-
neriſchen Thätigkeit war. Nicht viel anders verhält es ſich mit
der Jurisprudenz und dem Gewohnheitsrecht; auch ſie waren
durch den alten Proceß in enge Gränzen gewieſen. Dieſen be-
engenden und lähmenden Einfluß des alten Syſtems nachzuwei-
ſen, iſt Gegenſtand der folgenden Darſtellung.

Worauf beruhte er? Nicht bloß auf dem rein proceſſualiſchen
Element des alten Verfahrens. Wäre das Princip der Legis-
actio ein rein proceſſualiſches geweſen, hätte die Gebundenheit
und Unfreiheit ſich lediglich auf den Gang und die Formen des
Verfahrens beſchränkt, das materielle Recht würde dadurch in
ſeiner Entwickelung nicht in ſolchem Maße beeinträchtigt wor-
den ſein. Die durch den Formularproceß gewährte Elaſticität

896) Gaj. IV, 11: quippe tunc edicta Praetoris, quibus complures
actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur.
897) Cic. pro Mur. c. 12: Praetor interea, ne pulchrum se ac bea-
tum putaret atque aliquid ipse sua sponte loqueretur, ei quoque
carmen compositum est.
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[665/0371] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. dieſe Klage bereits im fünften Jahrhundert, alſo noch geraume Zeit vor ſeiner Aufhebung verſtummen. Dagegen litt er an einem andern Mangel, der, wenn auch von den Römern ſelbſt mit keiner Silbe erwähnt, doch von der Geſchichte in unzweifelhafter Weiſe documentirt iſt. Es ſteht unter allen Kundigen feſt, daß mit dem Formular- proceß eine neue Aera für das römiſche Recht datirt — ich meine nicht etwa bloß den Proceß, ſondern auch das materielle Recht. Erſt von dieſem Zeitpunkt an beginnt jene Rechtsquelle zu fließen, die für das ganze Recht eine Quelle neuen Lebens werden ſollte — das prätoriſche Edict. 896) Es iſt nicht Zufall, daß dies erſt jetzt geſchah; das Legisactionen-Syſtem und das Edict waren unverträglich mit einander. Im alten Proceß waren dem Prätor die Hände gebunden, er war nichts als ein Stück der Maſchine 897) — er in ihrer Gewalt, ſie nicht in der ſei- nigen; erſt das Formularverfahren gewährte ihm jene Freiheit der Bewegung, die eine weſentliche Bedingung ſeiner rechtsbild- neriſchen Thätigkeit war. Nicht viel anders verhält es ſich mit der Jurisprudenz und dem Gewohnheitsrecht; auch ſie waren durch den alten Proceß in enge Gränzen gewieſen. Dieſen be- engenden und lähmenden Einfluß des alten Syſtems nachzuwei- ſen, iſt Gegenſtand der folgenden Darſtellung. Worauf beruhte er? Nicht bloß auf dem rein proceſſualiſchen Element des alten Verfahrens. Wäre das Princip der Legis- actio ein rein proceſſualiſches geweſen, hätte die Gebundenheit und Unfreiheit ſich lediglich auf den Gang und die Formen des Verfahrens beſchränkt, das materielle Recht würde dadurch in ſeiner Entwickelung nicht in ſolchem Maße beeinträchtigt wor- den ſein. Die durch den Formularproceß gewährte Elaſticität 896) Gaj. IV, 11: quippe tunc edicta Praetoris, quibus complures actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur. 897) Cic. pro Mur. c. 12: Praetor interea, ne pulchrum se ac bea- tum putaret atque aliquid ipse sua sponte loqueretur, ei quoque carmen compositum est.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/371>, abgerufen am 24.11.2024.