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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
telst eines Piaculum gesühnt werden, die absichtliche konnte
es nicht. Den religiösen Charakter der Proceßformeln ange-
nommen, so hätte also ein Mißgriff in der Benutzung derselben
ebenfalls durch ein Piaculum gesühnt werden müssen. Daß bei
den wirklich religiösen Formeln das Versehen diese Folge nach
sich zog, wird uns ausdrücklich bezeugt. 911)

Doch unser Gegner gibt uns selbst die Waffen zu seiner
Widerlegung in die Hand. Seiner Ansicht zufolge sollen näm-
lich die Proceßformeln bereits vor den XII Tafeln vorhanden
gewesen, ja zum Theil in sie übergegangen sein. Damit hat
er selbst den der religiösen Weihe des Gesetzes entlehnten
Grund beseitigt. Worauf stützten diese uranfänglichen For-
meln denn damals ihren "heiligen" Charakter? In der That,
wenn nicht die Götter Roms dem Volk statt Religionsbücher
eine Sammlung von Proceßformeln in die Wiege gelegt haben,
ich wüßte ihnen denselben nicht zu retten!

Aber auch als sich ihnen in den Gesetzen eine denkbare Quelle
desselben erschloß -- wie viel hätte es bedurft, um aus dieser
Quelle zu schöpfen! Fühlt die empfindliche Gottheit als Schutz-
patronin des Gesetzes sich schon durch die bloß mittelbare
Uebertretung des Gesetzes verletzt, durch ein fehlendes Wort in
der Legisactio, um wie viel mehr durch eine unmittelbare und
absichtliche Verletzung desselben. Der Gott, dem der Bestoh-
lene, der bei der actio furti sich verspricht, ein Aergerniß
ist, wie wird er erst den Dieb die Wucht des Zorns fühlen
lassen. Allein letzterer geht leer aus -- die Götter, die für das
Wort ein so scharfes Ohr haben, besitzen für die Handlung
kein Auge! -- Der Diebstahl bringt ihnen nichts ein.

So lange nun der Beweis nicht erbracht wird -- und er wird
ewig auf sich warten lassen -- daß die Uebertretung eines jeden
Gesetzes in Rom als ein Vergehen gegen die Götter angesehen

911) Arnob. adv. gentes IV, 31 Piaculi dicitur contracta esse com-
missio, si per imprudentiae lapsum aut in verbo quisquam ... deer-
raverit.

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
telſt eines Piaculum geſühnt werden, die abſichtliche konnte
es nicht. Den religiöſen Charakter der Proceßformeln ange-
nommen, ſo hätte alſo ein Mißgriff in der Benutzung derſelben
ebenfalls durch ein Piaculum geſühnt werden müſſen. Daß bei
den wirklich religiöſen Formeln das Verſehen dieſe Folge nach
ſich zog, wird uns ausdrücklich bezeugt. 911)

Doch unſer Gegner gibt uns ſelbſt die Waffen zu ſeiner
Widerlegung in die Hand. Seiner Anſicht zufolge ſollen näm-
lich die Proceßformeln bereits vor den XII Tafeln vorhanden
geweſen, ja zum Theil in ſie übergegangen ſein. Damit hat
er ſelbſt den der religiöſen Weihe des Geſetzes entlehnten
Grund beſeitigt. Worauf ſtützten dieſe uranfänglichen For-
meln denn damals ihren „heiligen“ Charakter? In der That,
wenn nicht die Götter Roms dem Volk ſtatt Religionsbücher
eine Sammlung von Proceßformeln in die Wiege gelegt haben,
ich wüßte ihnen denſelben nicht zu retten!

Aber auch als ſich ihnen in den Geſetzen eine denkbare Quelle
deſſelben erſchloß — wie viel hätte es bedurft, um aus dieſer
Quelle zu ſchöpfen! Fühlt die empfindliche Gottheit als Schutz-
patronin des Geſetzes ſich ſchon durch die bloß mittelbare
Uebertretung des Geſetzes verletzt, durch ein fehlendes Wort in
der Legisactio, um wie viel mehr durch eine unmittelbare und
abſichtliche Verletzung deſſelben. Der Gott, dem der Beſtoh-
lene, der bei der actio furti ſich verſpricht, ein Aergerniß
iſt, wie wird er erſt den Dieb die Wucht des Zorns fühlen
laſſen. Allein letzterer geht leer aus — die Götter, die für das
Wort ein ſo ſcharfes Ohr haben, beſitzen für die Handlung
kein Auge! — Der Diebſtahl bringt ihnen nichts ein.

So lange nun der Beweis nicht erbracht wird — und er wird
ewig auf ſich warten laſſen — daß die Uebertretung eines jeden
Geſetzes in Rom als ein Vergehen gegen die Götter angeſehen

911) Arnob. adv. gentes IV, 31 Piaculi dicitur contracta esse com-
missio, si per imprudentiae lapsum aut in verbo quisquam … deer-
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[677/0383] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. telſt eines Piaculum geſühnt werden, die abſichtliche konnte es nicht. Den religiöſen Charakter der Proceßformeln ange- nommen, ſo hätte alſo ein Mißgriff in der Benutzung derſelben ebenfalls durch ein Piaculum geſühnt werden müſſen. Daß bei den wirklich religiöſen Formeln das Verſehen dieſe Folge nach ſich zog, wird uns ausdrücklich bezeugt. 911) Doch unſer Gegner gibt uns ſelbſt die Waffen zu ſeiner Widerlegung in die Hand. Seiner Anſicht zufolge ſollen näm- lich die Proceßformeln bereits vor den XII Tafeln vorhanden geweſen, ja zum Theil in ſie übergegangen ſein. Damit hat er ſelbſt den der religiöſen Weihe des Geſetzes entlehnten Grund beſeitigt. Worauf ſtützten dieſe uranfänglichen For- meln denn damals ihren „heiligen“ Charakter? In der That, wenn nicht die Götter Roms dem Volk ſtatt Religionsbücher eine Sammlung von Proceßformeln in die Wiege gelegt haben, ich wüßte ihnen denſelben nicht zu retten! Aber auch als ſich ihnen in den Geſetzen eine denkbare Quelle deſſelben erſchloß — wie viel hätte es bedurft, um aus dieſer Quelle zu ſchöpfen! Fühlt die empfindliche Gottheit als Schutz- patronin des Geſetzes ſich ſchon durch die bloß mittelbare Uebertretung des Geſetzes verletzt, durch ein fehlendes Wort in der Legisactio, um wie viel mehr durch eine unmittelbare und abſichtliche Verletzung deſſelben. Der Gott, dem der Beſtoh- lene, der bei der actio furti ſich verſpricht, ein Aergerniß iſt, wie wird er erſt den Dieb die Wucht des Zorns fühlen laſſen. Allein letzterer geht leer aus — die Götter, die für das Wort ein ſo ſcharfes Ohr haben, beſitzen für die Handlung kein Auge! — Der Diebſtahl bringt ihnen nichts ein. So lange nun der Beweis nicht erbracht wird — und er wird ewig auf ſich warten laſſen — daß die Uebertretung eines jeden Geſetzes in Rom als ein Vergehen gegen die Götter angeſehen 911) Arnob. adv. gentes IV, 31 Piaculi dicitur contracta esse com- missio, si per imprudentiae lapsum aut in verbo quisquam … deer- raverit.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/383>, abgerufen am 24.11.2024.