Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.II. Die Aufgabe derselben. §. 38. man das concrete Dasein eines Begriffs erkennen kann, auf-suchen und angeben. Dazu genügt freilich nicht, daß sie die Momente bezeichnet, die den abstracten Thatbestand des Ge- schäfts ausmachen -- die rein theoretische Analyse desselben -- sondern sie hat vor allem das praktische Auftreten des Begriffs ins Auge zu fassen d. h. die regulären Formen, Ausdrücke 490) anzugeben, in die das Leben ihn zu kleiden pflegt, die Zwecke, denen er erfahrungsmäßig dienen soll, die Umstände, Verhält- nisse, unter denen er regelmäßig auftritt. 491) Sie wird hier mit- hin auf die Statistik des Rechts verwiesen. Wie nun die Sta- tistik überhaupt zur Aufstellung einer Wahrscheinlichkeitstheorie führt, so auch hier. Der Zweck und Werth der juristischen Wahrscheinlichkeitstheorie besteht darin, daß sie uns aus dem Zustand absoluter Ungewißheit errettet. Es kann näm- lich ein concretes Rechtsverhältniß so eigenthümlich gestaltet sein, daß es die Merkmale zweier Begriffe an sich trägt, und mithin eine Entscheidung für den einen oder andern absolut unmöglich ist. In einem solchen Zweifelsfall bedarf es nun, da eine Ent- scheidung einmal getroffen werden muß, eines Gewichts, das den Ausschlag gibt, und dies ist die Vermuthung, die juri- stische Präsumtion (praesumptio juris). Ich will ein bekanntes Beispiel wählen. Wenn vor Eingehung der Ehe die zur Dos bestimmten Gegenstände dem Manne übertragen werden, so kann dadurch bloß eine Uebertragung des Besitzes oder bereits die des Eigenthums beabsichtigt sein. Wie nun wenn im einzelnen Fall nicht erhellt, was von beiden beabsichtigt ist? Hier soll der Eigenthumsübergang angenommen werden. 492) Woher nahm 490) z. B. das Zeichnen der Waare L. 1 §. 2 L. 14 §. 1 de peric. (18. 6), Ueberlieferung der Urkunden L. 1 Cod. de donat. (8. 54), Geben einer arrha u. s. w. 491) Eine der ausgebildetsten derartigen Theorien scheint in der römi- schen Jurisprudenz für die Novation gegolten zu haben. S. Justinians Be- richt darüber in L. ult. Cod. de novat. (8. 42). 492) L. 8 de jure dot. (23. 3).
II. Die Aufgabe derſelben. §. 38. man das concrete Daſein eines Begriffs erkennen kann, auf-ſuchen und angeben. Dazu genügt freilich nicht, daß ſie die Momente bezeichnet, die den abſtracten Thatbeſtand des Ge- ſchäfts ausmachen — die rein theoretiſche Analyſe deſſelben — ſondern ſie hat vor allem das praktiſche Auftreten des Begriffs ins Auge zu faſſen d. h. die regulären Formen, Ausdrücke 490) anzugeben, in die das Leben ihn zu kleiden pflegt, die Zwecke, denen er erfahrungsmäßig dienen ſoll, die Umſtände, Verhält- niſſe, unter denen er regelmäßig auftritt. 491) Sie wird hier mit- hin auf die Statiſtik des Rechts verwieſen. Wie nun die Sta- tiſtik überhaupt zur Aufſtellung einer Wahrſcheinlichkeitstheorie führt, ſo auch hier. Der Zweck und Werth der juriſtiſchen Wahrſcheinlichkeitstheorie beſteht darin, daß ſie uns aus dem Zuſtand abſoluter Ungewißheit errettet. Es kann näm- lich ein concretes Rechtsverhältniß ſo eigenthümlich geſtaltet ſein, daß es die Merkmale zweier Begriffe an ſich trägt, und mithin eine Entſcheidung für den einen oder andern abſolut unmöglich iſt. In einem ſolchen Zweifelsfall bedarf es nun, da eine Ent- ſcheidung einmal getroffen werden muß, eines Gewichts, das den Ausſchlag gibt, und dies iſt die Vermuthung, die juri- ſtiſche Präſumtion (praesumptio juris). Ich will ein bekanntes Beiſpiel wählen. Wenn vor Eingehung der Ehe die zur Dos beſtimmten Gegenſtände dem Manne übertragen werden, ſo kann dadurch bloß eine Uebertragung des Beſitzes oder bereits die des Eigenthums beabſichtigt ſein. Wie nun wenn im einzelnen Fall nicht erhellt, was von beiden beabſichtigt iſt? Hier ſoll der Eigenthumsübergang angenommen werden. 492) Woher nahm 490) z. B. das Zeichnen der Waare L. 1 §. 2 L. 14 §. 1 de peric. (18. 6), Ueberlieferung der Urkunden L. 1 Cod. de donat. (8. 54), Geben einer arrha u. ſ. w. 491) Eine der ausgebildetſten derartigen Theorien ſcheint in der römi- ſchen Jurisprudenz für die Novation gegolten zu haben. S. Juſtinians Be- richt darüber in L. ult. Cod. de novat. (8. 42). 492) L. 8 de jure dot. (23. 3).
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II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
man das concrete Daſein eines Begriffs erkennen kann, auf-
ſuchen und angeben. Dazu genügt freilich nicht, daß ſie die
Momente bezeichnet, die den abſtracten Thatbeſtand des Ge-
ſchäfts ausmachen — die rein theoretiſche Analyſe deſſelben —
ſondern ſie hat vor allem das praktiſche Auftreten des Begriffs
ins Auge zu faſſen d. h. die regulären Formen, Ausdrücke 490)
anzugeben, in die das Leben ihn zu kleiden pflegt, die Zwecke,
denen er erfahrungsmäßig dienen ſoll, die Umſtände, Verhält-
niſſe, unter denen er regelmäßig auftritt. 491) Sie wird hier mit-
hin auf die Statiſtik des Rechts verwieſen. Wie nun die Sta-
tiſtik überhaupt zur Aufſtellung einer Wahrſcheinlichkeitstheorie
führt, ſo auch hier. Der Zweck und Werth der juriſtiſchen
Wahrſcheinlichkeitstheorie beſteht darin, daß ſie uns
aus dem Zuſtand abſoluter Ungewißheit errettet. Es kann näm-
lich ein concretes Rechtsverhältniß ſo eigenthümlich geſtaltet ſein,
daß es die Merkmale zweier Begriffe an ſich trägt, und mithin
eine Entſcheidung für den einen oder andern abſolut unmöglich
iſt. In einem ſolchen Zweifelsfall bedarf es nun, da eine Ent-
ſcheidung einmal getroffen werden muß, eines Gewichts, das
den Ausſchlag gibt, und dies iſt die Vermuthung, die juri-
ſtiſche Präſumtion (praesumptio juris). Ich will ein bekanntes
Beiſpiel wählen. Wenn vor Eingehung der Ehe die zur Dos
beſtimmten Gegenſtände dem Manne übertragen werden, ſo kann
dadurch bloß eine Uebertragung des Beſitzes oder bereits die
des Eigenthums beabſichtigt ſein. Wie nun wenn im einzelnen
Fall nicht erhellt, was von beiden beabſichtigt iſt? Hier ſoll der
Eigenthumsübergang angenommen werden. 492) Woher nahm
490) z. B. das Zeichnen der Waare L. 1 §. 2 L. 14 §. 1 de peric.
(18. 6), Ueberlieferung der Urkunden L. 1 Cod. de donat. (8. 54), Geben
einer arrha u. ſ. w.
491) Eine der ausgebildetſten derartigen Theorien ſcheint in der römi-
ſchen Jurisprudenz für die Novation gegolten zu haben. S. Juſtinians Be-
richt darüber in L. ult. Cod. de novat. (8. 42).
492) L. 8 de jure dot. (23. 3).
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