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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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A. Der Proceß. Gesammturtheil. §. 52.

Gewiß! das sind die Nachtheile der Einrichtung; aber es
frägt sich nur, ob sie nicht, wie bei der Eisenbahn, durch die
Vortheile überwogen werden -- oder richtiger gesagt: im alten
Rom wurden; denn wir müssen sie nicht messen mit dem Maße
der heutigen, sondern der altrömischen Zeit. Wo, wie heutzu-
tage, die Führung eines Processes mit großen Kosten verbunden
ist, fällt der Kostenpunkt allerdings schwer ins Gewicht, und die
Rücksicht der Kostenersparniß scheint dafür zu sprechen, das ge-
sammte Streitmaterial mit einem Male abzuthun. 167) Allein
ich möchte auch hier die Frage aufwerfen: wird das Maß der
Arbeit, nach dem sich doch die Kosten bestimmen, geringer, wenn
dieselben Rechtsfragen gemeinschaftlich, als wenn sie isolirt be-
handelt werden? Ich behaupte: es wird größer, denn je mehr
Fragen sich häufen, um so mehr steigt die Schwierigkeit; zu der
Arbeit, die jede einzelne erfordert, gesellt sich noch die, sie alle aus-
einander zu halten; wer zehn Gegenstände mit leichter Mühe hin-
ter
einander zu heben vermag, erliegt unter der Last, wenn er sie
mit einem Male heben soll. Dazu gesellt sich noch ein anderer
Gesichtspunkt. Wo der Häufung des Streitmaterials keine
Gränze gesetzt ist, wird, wie die tägliche Erfahrung unseres Pro-
cesses lehrt, neben den Gründen und Gesichtspunkten, von denen
die Parthei sich allein den Sieg verspricht, noch eine Masse an-
derer völlig nichtiger und haltloser zusammengetragen, Einreden
des Zwangs, Betrugs, Irrthums u. s. w., an die die Parthei
selber nicht glaubt, gleich als gelte es, die Gelegenheit zu be-
nutzen, um kostenfrei auch Ballast zu befördern. Aber der Ballast
wiegt eben so schwer, und kostet eben so viel, als das Werth-
object! Wie sehr würde manche Parthei sich besinnen, von diesem
Material Gebrauch zu machen, wenn dies nicht mehr in einem
und demselben, sondern, wie im alten Rom, nur in Form ver-
schiedener Processe möglich wäre! Wie wenige von allen jenen

167) Plank Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten S. 70, 90; über die von
ihm gleichmäßig betonte Rücksicht auf Zeitersparniß s. u.
A. Der Proceß. Geſammturtheil. §. 52.

Gewiß! das ſind die Nachtheile der Einrichtung; aber es
frägt ſich nur, ob ſie nicht, wie bei der Eiſenbahn, durch die
Vortheile überwogen werden — oder richtiger geſagt: im alten
Rom wurden; denn wir müſſen ſie nicht meſſen mit dem Maße
der heutigen, ſondern der altrömiſchen Zeit. Wo, wie heutzu-
tage, die Führung eines Proceſſes mit großen Koſten verbunden
iſt, fällt der Koſtenpunkt allerdings ſchwer ins Gewicht, und die
Rückſicht der Koſtenerſparniß ſcheint dafür zu ſprechen, das ge-
ſammte Streitmaterial mit einem Male abzuthun. 167) Allein
ich möchte auch hier die Frage aufwerfen: wird das Maß der
Arbeit, nach dem ſich doch die Koſten beſtimmen, geringer, wenn
dieſelben Rechtsfragen gemeinſchaftlich, als wenn ſie iſolirt be-
handelt werden? Ich behaupte: es wird größer, denn je mehr
Fragen ſich häufen, um ſo mehr ſteigt die Schwierigkeit; zu der
Arbeit, die jede einzelne erfordert, geſellt ſich noch die, ſie alle aus-
einander zu halten; wer zehn Gegenſtände mit leichter Mühe hin-
ter
einander zu heben vermag, erliegt unter der Laſt, wenn er ſie
mit einem Male heben ſoll. Dazu geſellt ſich noch ein anderer
Geſichtspunkt. Wo der Häufung des Streitmaterials keine
Gränze geſetzt iſt, wird, wie die tägliche Erfahrung unſeres Pro-
ceſſes lehrt, neben den Gründen und Geſichtspunkten, von denen
die Parthei ſich allein den Sieg verſpricht, noch eine Maſſe an-
derer völlig nichtiger und haltloſer zuſammengetragen, Einreden
des Zwangs, Betrugs, Irrthums u. ſ. w., an die die Parthei
ſelber nicht glaubt, gleich als gelte es, die Gelegenheit zu be-
nutzen, um koſtenfrei auch Ballaſt zu befördern. Aber der Ballaſt
wiegt eben ſo ſchwer, und koſtet eben ſo viel, als das Werth-
object! Wie ſehr würde manche Parthei ſich beſinnen, von dieſem
Material Gebrauch zu machen, wenn dies nicht mehr in einem
und demſelben, ſondern, wie im alten Rom, nur in Form ver-
ſchiedener Proceſſe möglich wäre! Wie wenige von allen jenen

167) Plank Mehrheit der Rechtsſtreitigkeiten S. 70, 90; über die von
ihm gleichmäßig betonte Rückſicht auf Zeiterſparniß ſ. u.
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[121/0137] A. Der Proceß. Geſammturtheil. §. 52. Gewiß! das ſind die Nachtheile der Einrichtung; aber es frägt ſich nur, ob ſie nicht, wie bei der Eiſenbahn, durch die Vortheile überwogen werden — oder richtiger geſagt: im alten Rom wurden; denn wir müſſen ſie nicht meſſen mit dem Maße der heutigen, ſondern der altrömiſchen Zeit. Wo, wie heutzu- tage, die Führung eines Proceſſes mit großen Koſten verbunden iſt, fällt der Koſtenpunkt allerdings ſchwer ins Gewicht, und die Rückſicht der Koſtenerſparniß ſcheint dafür zu ſprechen, das ge- ſammte Streitmaterial mit einem Male abzuthun. 167) Allein ich möchte auch hier die Frage aufwerfen: wird das Maß der Arbeit, nach dem ſich doch die Koſten beſtimmen, geringer, wenn dieſelben Rechtsfragen gemeinſchaftlich, als wenn ſie iſolirt be- handelt werden? Ich behaupte: es wird größer, denn je mehr Fragen ſich häufen, um ſo mehr ſteigt die Schwierigkeit; zu der Arbeit, die jede einzelne erfordert, geſellt ſich noch die, ſie alle aus- einander zu halten; wer zehn Gegenſtände mit leichter Mühe hin- ter einander zu heben vermag, erliegt unter der Laſt, wenn er ſie mit einem Male heben ſoll. Dazu geſellt ſich noch ein anderer Geſichtspunkt. Wo der Häufung des Streitmaterials keine Gränze geſetzt iſt, wird, wie die tägliche Erfahrung unſeres Pro- ceſſes lehrt, neben den Gründen und Geſichtspunkten, von denen die Parthei ſich allein den Sieg verſpricht, noch eine Maſſe an- derer völlig nichtiger und haltloſer zuſammengetragen, Einreden des Zwangs, Betrugs, Irrthums u. ſ. w., an die die Parthei ſelber nicht glaubt, gleich als gelte es, die Gelegenheit zu be- nutzen, um koſtenfrei auch Ballaſt zu befördern. Aber der Ballaſt wiegt eben ſo ſchwer, und koſtet eben ſo viel, als das Werth- object! Wie ſehr würde manche Parthei ſich beſinnen, von dieſem Material Gebrauch zu machen, wenn dies nicht mehr in einem und demſelben, ſondern, wie im alten Rom, nur in Form ver- ſchiedener Proceſſe möglich wäre! Wie wenige von allen jenen 167) Plank Mehrheit der Rechtsſtreitigkeiten S. 70, 90; über die von ihm gleichmäßig betonte Rückſicht auf Zeiterſparniß ſ. u.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/137>, abgerufen am 23.11.2024.